Der tausendfältige Gedanke
es nur gewesen, der da gesprochen hatte?
Die Welt wirbelte im Licht der untergehenden Sonne.
Er ist ich… Wie sonst könnte er wissen, was er weiß?
Als wäre nichts geschehen, fragte Kellhus: »Wie können manche Worte Wunder vollbringen und andere nicht?«
Achamian schluckte und wollte die Fassung zurückgewinnen, indem er sich auf seine Kenntnisse besann. »Die Nichtmenschen glaubten einst, die Sprache ermögliche die Hexenkunst. Doch als die Menschen für ihre Formeln die Alltagssprache zu verwenden begannen, wurde deutlich, dass dem nicht so war…« Er atmete tief durch und merkte, dass Kellhus mit seiner Frage nicht nur Achamians Unwissenheit, sondern die eines jeden Hexenmeisters offenkundig gemacht hatte. Ich verstehe wirklich nichts.
»Es geht darum, was die Worte bedeuten«, fuhr er fort. »Die Bedeutungen sind irgendwie anders. Niemand weiß, warum.«
Kellhus nickte und sah auf den Saum seiner Robe hinab. Als er aufblickte, vermochte Achamian ihm nicht in die strahlenden Augen zu schauen. »Bedeutet das Wort Liebe für dich, was es seit jeher bedeutet, oder hat es einen anderen Inhalt?«
Belohne den Verstand und bestrafe das Herz – es war immer dasselbe mit Kellhus.
»Wie meinst du das?«
»Dass die Bedeutung eines Wortes sich mit den Erinnerungen verändert, die an ihm haften.«
Esmenet.
»Du meinst also, dass in Worten der Hexenkunst eine Erinnerung bewahrt ist, die in anderen Worten nicht steckt?«, fragte Achamian aufgebrachter als beabsichtigt. Seine Miene hatte etwas Höhnisches bekommen. »Aber welche Erinnerung könnten Worte denn bewahren? Worte sind doch keine…« Plötzliches Begreifen ließ ihn verstummen. Es gibt nur eine Seele…
»Es geht nicht um Worte, Akka, sondern um dich – darum, welche deiner Erinnerungen bloßen Worten wundertätige Kraft verleihen können.«
»Ich verstehe nicht…«
»Du verstehst mich sehr wohl.«
Achamian blinzelte, um seine lächerlichen Tränen loszuwerden. Er dachte an die Scharlachspitzen, an ihren Gebäudekomplex in Iothiah und an die Welt, die unter seinen ausgestreckten Fingern explodiert war. Und er erinnerte sich der Bedeutungen, derer er sich bedient hatte, an sein ungeheures Lied, das Flammen aus dem Nichts hatte lodern und Licht aus schwarzen Schatten hatte steigen lassen und alles vernichtet hatte, was ihn beleidigte. Die Worte! Die Worte, die seine Berufung und sein Fluch waren! Die Worte, die das Unmögliche ins Werk setzten…
… und die Welt zur Buße zwangen.
Wie konnte ein gewöhnlicher Sterblicher solche Dinge sagen?
»Wir knien vor Götzen«, sagte Kellhus, »und öffnen die Arme zum Himmel. Wir flehen die Ferne an und greifen gierig nach dem Horizont… Wir suchen draußen, Akka, immer nur draußen nach dem, was doch drinnen liegt…« – er legte die gespreizte Hand auf die Brust – »… was hier liegt, auf dieser Lichtung, die wir miteinander teilen.«
Die Sonne war blutrot untergegangen. Der Himmel wurde immer purpurfarbener, während die Rottöne, in denen die Ruinen eben noch geglänzt hatten, rasch an Kraft verloren. Der kühle Fallwind war einer sonnenwarmen Brise gewichen.
»Du willst also sagen«, begann Achamian mit seltsam fremder Stimme, »dass diese… diese eine Seele, die aus den Augen aller schaut, Gott ist.« Obwohl er es war, der diese Worte gesagt hatte, und obwohl er genau wusste, was sie bedeuteten, waren sie ihm geistesabwesend entfahren. Schauernd umklammerte er seine Schultern.
»Wir alle sind Gott«, sagte Kellhus so feierlich wie begeistert und wirkte dabei wie ein Vater, der seinen Sohn aufmuntert, nachdem er ihn verprügelt hat. »Gott ist stets hier und blickt aus deinen Augen und aus den Augen aller ringsum. Doch wir vergessen, wer wir sind, und beginnen, das Hier für ein anderes Dort zu halten, das der Unermesslichkeit der Welt isoliert und verworfen ausgesetzt ist. Wir vergessen… Aber wir vergessen nicht alle gleich viel.« Kellhus musterte ihn unerbittlich. »Und am wenigsten vergessen die Wenigen.«
Als Achamian durch die brennenden Flure von Iothiah gegangen war, hatte sein Zorn einen Moment lang gestockt, weil ihm klargeworden war, dass er sich nicht mehr erkannte. Er hatte mit Seswathas Stimme Worte geschrien, die sogar den Horizont dieser ehrwürdigen Persönlichkeit überstiegen hatten – Formeln, die die Wirklichkeit mit all ihren Kanten in etwas Weiches, Undurchsichtiges verwandelt hatten…
Wer war er damals gewesen? Wer?
»Wer magische Formeln spricht, Akka,
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