Der tausendfältige Gedanke
die Herren, die Gläubigen aber die Sklaven?
Nach der Abendmesse trieben die Aufseher die Frauen in den Mattenraum. Das war ein großes Zelt, wo sie auf fantastischen Teppichen schliefen, die – den Aufsehern zufolge – aus den Festungen ihrer toten Herren geplündert worden waren. Einige weinten nachts. Andere – solche zumal, die schön waren oder Probleme machten – wurden mitten in der Nacht abgeholt. Manchmal kehrten sie zurück, manchmal nicht. Aber Fanashila war der Ansicht, sie hätten sich das selbst eingebrockt. Man musste nur gehorchen… So einfach war das. Gehorche und du wirst belohnt oder wenigstens in Ruhe gelassen.
Das jedenfalls führte sie sich in jener Nacht vor Augen, in der sie selbst abgeholt wurde. Sie tat alles, was man ihr sagte. Das war die Regel! Man würde sie nicht verschwinden lassen – sie nicht! Immerhin hatte sie die Füße dieses Kriegerpropheten gewaschen…
Ihre Herrin Esmenet würde das niemals zulassen. Nie!
Der Aufseher Koropos, ein früherer Sklave der Kianene von der Insel Ciron, beantwortete keine ihrer geflüsterten Fragen. Mit festem Griff führte er sie zwischen den am Boden schlummernden Gestalten ins Vorzimmer, wo die Aufseher schliefen oder spielten. Erst dachte sie, sie wollten mit ihr schlafen. Sie wusste, dass diese Männer sie mit bösem Grinsen beobachteten – Tirius vor allem, der befreite Nansur. Sie hatten schon viele von ihnen vergewaltigt. Aber würden sie es wagen, sie zu schänden? Sie musste doch nur nach ihrer Herrin rufen, und man würde ihnen die Kehle durchschneiden.
Das sagte sie auch Koropos.
»Erzähl das ihm«, schnaubte der drahtige Alte und schob sie durch einen Vorhang aus Peitschen – den üblichen Eingang zu den Sklavenunterkünften der Inrithi – in die kühle Nacht.
Ein Mann stand groß und unbewegt in der Finsternis. Hinter ihm erstreckte sich das Lager dunkel und labyrinthisch. Weil er so unscheinbar gekleidet war – unter dem Umhang aus Ciron trug er nur ein weißes Leinengewand –, erkannte sie ihn nicht sofort… Lord Werjau von den Nascenti!
Sie fiel auf die Knie und drückte das Kinn auf die Brust, wie man es ihr beigebracht hatte.
»Sieh mich an«, begann er fest, aber wohlmeinend. »Sag mir, Liebes, was höre ich da für ein Gerücht?«
Fanashila war sehr erleichtert und sah sittsam zu Boden. Sie liebte Klatsch und Tratsch. Fast so sehr wie Aufmerksamkeit. »Was für ein Gerücht denn, gnädiger Herr?«
Werjau, der gefährlich nah vor ihr stand, lächelte auf sie herunter und strich ihr mit einem schwieligen Daumen übers Kinn. Sie zitterte, als er ihre Lippen entlangfuhr.
»Dass sie noch immer ein Paar sind.« So unnahbar sein Blick auch blieb: In seinem Tonfall schien ein… böses Lächeln zu liegen.
Fanashila schluckte und hatte wieder Angst. »Sie?«, fragte sie und blinzelte unter Tränen. »Wer denn?«
»Die Prophetengemahlin und der Heilige Tutor.«
11. Kapitel
AMOTEU
Keine Zauberformeln veranschaulichen das Wesen der Seele besser ab die Erzwingungsformeln. Dass diejenigen, die unter ihrem Einfluss stehen, sich untrüglich für frei halten, zeigt laut Zarathinius, dass auch der Wille nicht frei ist, sondern ein Teil der Seele. Dies bestreiten zwar nur wenige, doch die Ungereimtheiten, die sich daraus ergeben, entziehen sich allem Verständnis.
Meremnis: Die arkanen Zusammenhänge
Ein Müller sagte mir einst, wenn die Zahnräder nicht ineinandergreifen, verbeißen sie sich. Ebenso verhält es sich mit den Menschen und ihren Machenschaften.
Ontillas: Von der menschlichen Torheit
AMOTEU, VORFRÜHLING 4112
Sie waren von den mit Stroh ausgelegten Gutshöfen Galeoths hergekommen, in denen die Hunde mit ihren Herren zu Abend aßen; aus den tiefen Grenzforsten von Thunyerus, in denen die Sranc ihren ziellosen und ewigen Krieg führten; aus den Auwäldern von Ce Tydonn, wo langhaarige Lehnsmänner Rassereinheit predigten; von den großen Landgütern Conriyas, wo dunkeläugige Pfalzgrafen Gewinn aus ihrer Vergangenheit schlugen; von den schwül-heißen Ebenen Ainons, wo geschminkte Adlige sich durch von Menschen wimmelnde Straßen kämpften. Zwei Jahre war es nun her, dass der Vorsteher der Tausend Tempel sie gerufen hatte, und sie waren gekommen… die Männer des Stoßzahns.
Von Gerotha aus setzten sie ihren Marsch durch ein besiegtes Land fort. Die Kunde vom Tagetribut des Kriegerpropheten war ihnen vorausgeeilt, und wohin sie auch kamen, lagen die
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