Der tausendfältige Gedanke
verwendet Worte, die sich der Wahrheit erinnern.«
»Wahrheit«, wiederholte Achamian wie betäubt. Er verstand und wusste, was Kellhus sagte, doch er weigerte sich, es wirklich zu begreifen. »Welche Wahrheit?«
»Dass jeder von uns – auch wenn uns Staaten und Zeitalter trennen – im Hier lebt, dass wir alle die Welt durch zahllose Augen sehen und dass wir selbst der Gott sind, den wir verehren.«
Und Achamian glaubte, Gott tausendmal vor tausend Feuerstellen blinzeln gesehen zu haben. Eine Tochter stand ihm vor Augen, die auf ihren schlummernden Vater blickte; eine Alte, die den Arm ihres Gatten in ihren mit Leberflecken übersäten Händen hielt; ein Mann, der Blut spuckte und unter Schmerzen auf den Boden einschlug. Hier und jetzt, an diesem Ort… Wie sonst ließen sich die Beschwörungs- und Erzwingungsformeln und Seswathas Träume erklären?
»Sehr lange Zeit«, sagte Kellhus nun, »hast du dich für einen Ausgestoßenen gehalten, für einen Außenseiter. Und obwohl du stets bereit warst, die anzusprechen, die dich verurteilen würden, hast du in Scham gelebt. Du hast sie beobachtet und dich für dein Hoffen verflucht. Stets schienen sie andere mehr zu schätzen als dich. Immer waren sie ihrer selbst so gewiss. Und nie vermochten diese Narren einzusehen, wie außergewöhnlich du in Wahrheit warst. Sie haben ausgespuckt, wenn sie dich sahen. Sie haben gelacht, und obwohl du ihren Spott zum Beweis ihrer Dummheit genommen hast, hast du dich insgeheim gegrämt, hast geweint und dich gefragt: ›Warum muss ausgerechnet ich verdammt sein?‹«
Und Achamian dachte: Er ist wirklich ich!
Kellhus lächelte, und so erstaunlich es war: Achamian sah Inrau in seinem schillernden Blick. »Ich bin du, und du bist ich, denn wir sind eins.«
Aber ich bin gebrochen… Etwas stimmt nicht mit mir!
»Weil du ein frommer Mensch bist, der in eine Welt geboren wurde, die es nicht vermag, deine Frömmigkeit zu erfassen. Aber all das ändert sich mit mir, Akka. Die alten Offenbarungen haben ihre Zeit gehabt, und ich bin gekommen, die neuen zu enthüllen. Ich bin der Kürzeste Weg, und ich sage: Du bist nicht verdammt.«
Durch den Tumult seiner Leidenschaften hindurch flüsterte etwas Altes, Arkanes den Katechismus der Mandati: Zwar verlierst du deine Seele, doch du wirst die Welt gewinnen. Aber Kellhus redete schon wieder, und seine Stimme, die durch die warme Abendluft hallte, schien aus dem Zentrum der Dinge zu kommen.
»Die Worte eines Hexenmeisters vollbringen Wunder, weil in ihnen Gott erinnert ist… Bedenk doch, Akka, was es bedeutet, die Welt wie ein Hexenmeister zu sehen! Mach dir klar, was es heißt, das Onta zu verstehen! Die meisten sehen die Welt nur durch ein Augenpaar und begreifen die Schöpfung nur von einem Standpunkt her, aus einem Blickwinkel unter vielen. Die Wenigen aber – diejenigen also, die sich (wie unvollständig auch immer) an Gottes Stimme erinnern – sehen die Welt aus vielen Blickwinkeln und erinnern sich der tausend Augen, die von der Lichtung schauen, die wir Hier nennen. Daher ist alles, was sie sehen, verwandelt und lockt mit dem Vorschein der Fülle.
Und denk an das Mal… Für die meisten ist Hexenkunst nicht von der Welt zu unterscheiden. Wie sollte es anders sein, da sie die Welt nur aus einem Blickwinkel wahrnehmen? Für jemanden, der sich nicht bewegen kann, ist die Fassade der Tempel. Doch für die Wenigen, die aus vielen Blickwinkeln sehen, riecht die Hexenkunst nach Unvollständigkeit. Denn während Gottes Stimme zu allen Blickwinkeln spricht, sind die Wenigen vom Dunkel und der Unvollständigkeit ihrer Erinnerungen beschränkt. Sie können nur Fassaden beschwören…«
Es erschien so offensichtlich. Jede Gleichsetzung von Hexenmeistern mit Gotteslästerern, mit Menschen, die die ihnen innewohnende Göttlichkeit missbrauchten, oder mit Leuten, die Gottes heiliges Lied nachäfften, war nur plumpe Annäherung an jene Wahrheit, die Kellhus im Schoß hielt!
»Und die Cishaurim?«, hörte Achamian sich fragen. »Was ist mit denen?«
Der Kriegerprophet zuckte die Achseln. »Denk daran, wie ein Lagerfeuer die Welt ringsum ins Dunkel taucht. Oft blendet uns, was wir sehen, und lässt uns zu der Auffassung gelangen, es gebe nur einen Blickwinkel. Deshalb blenden sich die Cishaurim, ohne sich freilich ihrer Motivation bewusst zu sein. Sie löschen das Licht ihrer Augen und berauben sich ihres einseitigen Blickwinkels, um die vielen Blickwinkel, derer sie sich erinnern, besser zu
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