Der Tee der drei alten Damen
Hähähähä…«
»Sie sind lustig, Herr Staatsrat«, stellte O'Key fest.
»Nein, lieber Freund«, wehrte Herr Martinet ab, »im Gegenteil, ich bin wie alle Humoristen ein großer, ein schwerer Melancholiker. Und wie alle Melancholiker im Grunde Nihilist, oder wenn Ihnen diese Benennung Angst macht, ein Skeptiker. Nihil das heißt nichts, es ist ein schönes Wort, ich glaube an nichts, ich bemühe mich, alles amüsant zu finden, das ist das einzige, was ich für das Fortbestehen des Staatsrates Martinet machen kann. Sonst würde sich nämlich besagter Staatsrat ohne weiteres aufknüpfen, trotz der schauerlichen Lücke, die dieser Tod in der Genfer Politik hinterlassen würde. Ich finde die Menschen so komisch, lieber junger Freund, und nur weil ich sie komisch finde, gelingt es mir, weiter zu leben. Fände ich die Menschen nicht lächerlich, was hätte ich dann vom Leben? Äpfuuuh! Und noch dazu bei dieser Hitze!«
Das Taschentuch trat in Aktion und Herr Martinet putzte so sorgfältig seine Glatze, daß sie das Bild der drei Tulpenlampen zurückwarf, wie ein konvexer Spiegel.
»Und?…« fragte der Staatsrat.
»Ich brauche Ihren Rat«, sagte O'Key, »ich kenne mich nicht mehr aus. Ich weiß, ich sollte mich schämen, so etwas zu gestehen, aber… Fräulein Lemoyne ist seit heute nachmittag verschwunden, und da hab ich gedacht, Sie könnten vielleicht Nachforschungen…«
»Oh, und als Landsmann Edgar Wallaces denken Sie natürlich sogleich an finstere Gewölbe, teuflische Henker und mordgierige Affen, die Ihre Dulcinea auf eine Guillotine schnallen wollen… Trösten Sie sich, der Held kommt immer in der letzten Minute zur Rettung und dann wird geheiratet. Ja, ja, das Heiraten! Das haben Sie noch vor sich, junger Freund… und ich werde einmal meine Haushälterin heiraten. Denn nähme ich ein junges Mädchen – doch genug, wir wollen ernst bleiben. Fräulein Lemoyne ist verschwunden, sagten Sie? Und was nun? Haben Sie nachgeforscht? Nicht?… Weil Sie keine Zeit hatten? Und weil ich Ihnen heute morgen sagte, daß meine Kollegen vom Staatsrat zum Papa Martinet kommen, wenn sie nicht ein und aus wissen, haben Sie sich gedacht: Gehen wir den alten Martinet bei einem Pikett stören. Ist sonst noch etwas vorgefallen? Wenn ich raten soll, muß ich zuerst alles wissen.«
»Alles!« sagte O'Key mit einem müden Versuch, zu scherzen. »Wollen Sie dem lieben Gott Konkurrenz machen und allwissend werden? Wenn ich alles wüßte, brauchte ich nicht zu Ihnen zu kommen. Glauben Sie mir, Herr Staatsrat, ich bin auch nicht von heute. Ich habe mancherlei erlebt…«
»Glaub ich, mein Freund, glaub ich…«
»Aber was ich heute habe erleben müssen! Angefangen hat es mit Ihren Andeutungen über alte Damen, die Tee trinken und aufgehört hat es mit… nun ja, mit dem Verschwinden von Fräulein Lemoyne…«
»Sie wollten etwas anderes sagen, O'Key«, sagte Herr Martinet ernst, klopfte mit seiner Pfeife gegen einen riesigen porzellanenen Aschenbecher und stopfte sie nachher bedächtig. »Es ist noch etwas anderes passiert und dieses andere hat Sie mehr aus der Fasson gebracht, als das Verschwinden Fräulein Lemoynes. Aber wenn Sie's mir nicht erzählen können, so lassen Sie's sein. Behalten Sie's für sich. Ich bin nicht neugierig; nur möcht ich Ihnen einen Rat geben. Lockern Sie sich, verkrampfen Sie sich nicht, sprechen Sie den Fall vor sich hin, als Monolog meinetwegen, als Plan, sagen wir für einen Artikel. Ich werde hin und wieder leise Fragen in Ihren Monolog spießen, Sie werden antworten. Und was es auch sei, was Sie mir anzuvertrauen haben, ich werde es nicht verwerten. Stumm werde ich sein, wie das Grab, sowohl dem Kommissar Pillevuit gegenüber als auch gegen meinen Staatsanwalt. Es wird begraben bleiben in dieser Brust«, Herr Martinet schlug sich auf den gepolsterten Oberkörper; – das gab ein Geräusch, wie es beim Zurechtklopfen von Federkissen entsteht, »aber zuerst trinken Sie. Der Neuenburger ist annehmbar, er klärt die Gedanken und erschlägt sie nicht, wie Ihr grauenhaftes, schottisches Gesöff.«
»Auf Ihr Wohl!« sagte O'Key und stieß mit dem Staatsrat an.
»Danke«, erwiderte Herr Martinet, »ich werde mir Mühe geben, es mir wohl sein zu lassen.«
»Aber wo soll ich beginnen?« O'Key stellte sein Glas ab und blickte durch den leeren Saal. Vor den Spiegelscheiben der Brasserie rollten die eisernen Läden mit donnerndem Getöse herab. Herr Martinet ließ in Zwischenräumen von drei Sekunden
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