Der Tee der drei alten Damen
begleitete ihn. Er versprach, die Pneus am Motorrad in Ordnung zu bringen.
Die Nacht war dunstig. Der Mond beschäftigte sich mit der Auswahl eines Schleiers, aber keine Wolke schien passen zu wollen. So gab er es auf und strahlte weiter, mit nacktem Angesicht. Sehr ruhig war der See, wie tot. O'Key führte seine Armbanduhr dicht an die Augen: es war halb zwölf. Eilig schritt er auf der asphaltierten Straße der Stadt zu.
Über die Avenue de la Grenade gelangte er auf die Route de Chêne. Er kam an einem kleinen Hotel vorüber, blieb stehen, das Hotel kannte er. Ein Fenster war erleuchtet.
»Agent Zweiundsiebzig leidet an Schlaflosigkeit«, murmelte O'Key. »Wenn er wüßte, daß seine Mitarbeiterin mit dem Maharaja konspiriert und… halt!« – ihm fiel der Blick ein, Nataschas verklärter Blick, der sich nicht von des Fürsten Gesicht lösen konnte, »ja, halt! Welch wunderbare Schlagzeile: ›Kommunistische Agentin verliebt sich in indischen Fürsten!‹ Ach«, seufzte er, »wir werden noch eine Zeitlang warten müssen, bis wir wieder Schlagzeilen erfinden dürfen!«
O'Key war stehen geblieben, er beobachtete das erleuchtete Fenster. Vielleicht wußte Baranoff etwas über Madges Verschwinden. Er beschloß, den Feind besuchen zu gehen. Aber da fiel ihm ein Auto auf, das mit gelöschten Scheinwerfern an der nächsten Ecke stand. Er ging auf den Wagen zu, betrachtete ihn: ein ganz gewöhnlicher Citroen, leer, verlassen. O'Key versuchte die Türe zu öffnen, sie war verschlossen. »Soviel ich weiß, ist hier kein Parkplatz«, murmelte er. Er blickte wieder zum erleuchteten Fenster empor. Da zeichnete sich hinter der weißen Gardine die Silhouette eines Oberkörpers ab. Mager, schmal, eingesunkener Brustkasten. O'Key pfiff durch die Zähne. Ihm fiel die Szene vom Nachmittag ein. Bevor der junge Mann mit der Mappe in das wartende Auto gesprungen war, hatte sich seine Gestalt einen Augenblick im Profil ganz scharf gegen die weiße Häuserwand auf der andern Seite der Straße abgehoben. Und dieses Profil hatte viel Ähnlichkeit mit dem Profil, das dort oben am Fenster stand. Was hatte das zu bedeuten? Jane Pochos Sohn bei Baranoff? Der Sohn der Hexe mit der Münze und dem Fliegengesumm zusammen mit dem Agenten von Hammer und Sichel? O'Key verbarg sich in einem dunklen Toreingang und wartete. Das Licht hinter dem Fenster erlosch. Einige Minuten vergingen, dann öffnete sich vorsichtig die Türe des Hotels, ein Schatten glitt auf die Straße, blieb reglos stehen. Der Schatten schien auf etwas zu warten. Und richtig… näherten sich da nicht Schritte?
Aus der Seitengasse, an deren Ecke das Auto wartend stand, kam eine Gestalt. Unter der Laterne, die dem Hotel am nächsten stand, blieb sie stehen und war deutlich zu erkennen: die Gesichtsfarbe war die jener alten Herren, die den Winter hindurch in St. Moritz oder Davos Curling gespielt haben – und O'Key, verwundert erkannte er Sir Avindranath Erik Bose, Baronet des Königreiches Großbritannien, den bevollmächtigten Delegierten eines kleinen indischen Randstaates an der Völkerbundkonferenz in Genf.
Der Schatten, der so lange bewegungslos gestanden hatte, löste sich von der Mauer des Hotels ab, kam mit schnellen Schritten näher, blieb vor Sir Bose stehen, streckte ihm ein gelbes Kuvert hin. Und wieder mußte O'Key feststellen, daß er die Silhouette am Fenster richtig erkannt hatte. Es war wirklich der gleiche, unheimlich magere Mensch, der ihm am Nachmittag mit der Mappe zuvorgekommen war.
Nun flüsterten die beiden miteinander. O'Key gab sich Mühe, zu verstehen, was da verhandelt wurde. Zuerst verstand er nichts. Dann hörte er Sir Bose leise lachen, und der Junge stimmte in das Lachen mit einem heiseren Gekrächz ein. »Die Mappe ist bei ihm geblieben, mit den anderen Dokumenten«, hörte er nun den Jungen sagen. »Nur das hier hab ich mitgenommen. Übrigens, Baranoff schläft jetzt.« –
»Haha«, lachte Seine Exzellenz, »dann wollen wir den Kommissar aus dem Schlaf klingeln. Das hast du gut gemacht, mein Junge. Komm, wir wollen zu deiner Mutter.«
»Ja«, sagte der Junge in eigentümlichem Singsang. »Wir wollen zur Mutter. Der Meister wartet, der Meister wartet, der Meister, der Herr mit dem hölzernen Gesicht.«
»Nein, nein.« Sir Erics Stimme war laut und abwehrend, »mit dem Meister will ich nichts zu tun haben. Das geht mich nichts an. Wie lange bleibt deine Mutter bei ihm?«
»Sie kommt bald«, wieder der leise Singsang. »Ich werde sie holen
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