Der Tempelmord
beschützen. Vielleicht war es ja die Göttin, die ihr das Tier geschickt hatte?
Draußen dämmerte es. Die Priesterin konnte hören, wie das Leben im Lager erwachte. Sie atmete nur flach, so daß sich ihr Bauch kaum hob. Der Skorpion hockte jetzt unmittelbar unter ihrem Rippenbogen. Samu kam es so vor, als wäre das Tier ungewöhnlich groß. Sie würde es gerne sehen. Es war leichter, mit einer Gefahr umzugehen, der man ins Auge blicken konnte. Auch wüßte sie dann, ob es sich um einen der Skorpione handelte, deren Gift selbst Menschen zu töten vermochte, oder aber um eine harmlose Art.
Vorsichtig krallte sie ihre Zehen in den weichen Leinenstoff, und jedesmal, wenn sie ausatmete, zog sie die Decke mit den Füßen einen Finger breit tiefer. »Petet, erhöre mich! Sage deinem Bruder, daß ich eine Dienerin der Göttin bin!« Samu spürte, wie sich der Skorpion auf ihrem Bauch ein kleines Stück bewegte. Würde der Zauber auf ihn wirken?
» Tjetet, erhöre mich! Sage deinem Bruder, daß ich eine Dienerin der Göttin bin!« Wieder zog sie die Decke ein wenig tiefer. Die Stimme der Priesterin klang leise und monoton. Ihr Gesicht war naß von Schweiß. Sie versuchte, sich das Tier vorzustellen, das auf ihrem Bauch hockte. Versuchte, es im Netz der Magie einzufangen.
»»Matet, erhöre mich! Sage deinem Bruder, daß ich eine Dienerin der Göttin bin!« Samu wollte alle sieben Skor-
pione anrufen, die der Isis gedient hatten. Sie waren die Mächtigsten ihres Volkes, und einer von ihnen mußte der Herrscher über jenen Skorpion sein, der auf ihrem Bauch kauerte.
Die Priesterin hatte die Decke jetzt bis über ihre Brüste hinabgezogen. Nur noch ein kleines Stück, und sie würde die Bestie sehen! »Mesetetef, erhöre mich! Sage deinem Bruder, daß ich eine Dienerin der Göttin bin!« Wieder rutschte die Decke ein klein wenig tiefer. Das Tier verhielt sich weiterhin ruhig.
Die Priesterin leckte sich über die trockenen Lippen.
» Mesetetef, erhöre mich! Sage deinem Bruder, daß ich eine Dienerin der Göttin bin!«
Im selben Augenblick, in dem sie den Namen Mesetetef aussprach, begann das Tier sich zu bewegen. Langsam schoben sich seine Zangen unter der Decke hervor. Lautlos öffneten und schlossen sie sich, so als wolle er ihr ein Zeichen geben oder sie einfach nur grüßen. Auf seinen dünnen Beinen kroch der Skorpion vorwärts, bis er zwischen ihren Brüsten lag. Er war schwarz wie die Nacht und fast so groß wie eine Menschenhand. Seinen Stachel hatte er drohend über den Rücken erhoben.
»Ist Mesetetef dein Herrscher?«
Der Stachel des Skorpions zuckte auf und nieder.
»Ich bin Samu, Dienerin der Isis. Spürst du die Kraft der Göttin in mir? Laß uns einen Bund schließen, so wie dein Herrscher einst mit meiner Herrin einen Bund geschlossen hat.« Samu sprach leise und bewegte bei ihren Worten kaum die Lippen. Langsam senkte sich der drohende Stachel.
»Bist du zu mir gekommen, so wie Mesetetef gekommen ist, um die Zauberreiche zu schützen?«
Die Plane am Eingang des Zeltes wurde zurückgeschlagen, und Haritat trat hinein. »Guten Morgen, Priesterin. Wenn du noch ...« Der Beduine verstummte. Schlagartig wich die Farbe aus seinem Gesicht. Seine Rechte glitt zu dem Dolch an seinem Gürtel.
Von der fremden Stimme erschreckt, hatte der Skorpion sich umgedreht und wieder drohend seinen Stachel erhoben.
»Beim Barte Melkarts! Bewege dich nicht, Priesterin!« Langsam zog der Beduine seinen Dolch. »Ich werde dich retten, aber bleib ganz ruhig.«
»Laß ihn in Ruhe, Haritat! Die Göttin hat ihn geschickt, um über mich zu wachen. Wie du siehst, hat er zwischen meinen Brüsten geschlafen und mir nichts getan. Doch dich mag er nicht! Er hat mir gesagt, daß er in der nächsten Nacht seine Brüder mitbringen und dich besuchen wird.«
Der Beduine schlug mit der Linken ein Schutzzeichen.
Währenddessen kroch der Skorpion Samus Bauch hinab und kletterte auf die Decke. Die Priesterin atmete immer noch ganz flach. Sie war sich keineswegs sicher, ob sie dieser kleinen Bestie wirklich zu gebieten vermochte. Doch davon würde sie sich nichts anmerken lassen!
»Ich glaube, mein Leibwächter mag dich nicht, Haritat! Ich habe ihm erzählt, daß du mich in Fesseln nach Jerusalem führen willst. Er war darüber sehr zornig.« Samu konnte sehen, wie sich der Adamsapfel des Beduinen auf und ab bewegte. Haritat machte einen Schritt zurück.
»Wenn du mir dein Wort gibst, nicht zu fliehen, Priesterin, dann mußt du keine
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