Der Teufel von Garmisch
aber die Brille fand er nicht. Irgendwo über ihm war
ein wackliger Halt. Er griff danach und versuchte, sich hochzuziehen. Sein Kopf
stieß irgendwo gegen, und er schrie auf vor Schmerz.
Nur ganz langsam wurde ihm klar, wo er sich befand. Er lag in seinem
R5, kopfüber im Fußraum vor dem Beifahrersitz. Was seine Linke umklammert
hielt, war das Lenkrad. Mit Mühe gelang es ihm, sich aufzurichten. Er lag nun
quer auf den Vordersitzen.
Sein rechter Arm war eingeschlafen und völlig taub. Er hob ihn mit
der Linken an, und er fiel einfach wie gelähmt wieder an ihm herunter.
Schwerfällig rutschte er hoch in Sitzposition und tastete wieder
nach der Brille. Er hatte sechs Dioptrien und sah ohne sie ungefähr so viel wie
ein Mensch unter Wasser. Aber die Brille war nicht zu finden. Mit
zusammengekniffenen Augen sah er zum Himmel. Der Mond war verschwunden, aber er
glaubte zu erkennen, dass der R5 noch zwischen den Büschen stand, wo er ihn verlassen
hatte.
Stück für Stück setzte seine Erinnerung wieder ein, und das trug
nicht dazu bei, dass es ihm besser ging. Er sah zum Haus hinüber. Das Licht im
ersten Stock war aus.
Für einen Moment keimte die Hoffnung in ihm, alles sei nur ein böser
Traum gewesen, aber dann tastete er über seinen Hinterkopf und fühlte eine
riesige Beule.
Sanne war tot. Ermordet. Und er war niedergeschlagen worden – von
ihrem Mörder. Er hatte sich mit dem Mörder im selben Zimmer befunden. Er konnte
glücklich sein, noch zu leben.
Konnte er?
Nein. Er konnte nicht. Sanne war tot. Das Funkeln war fort. Die
Augen, in denen es geleuchtet hatte, waren geraubt worden.
Übelkeit übermannte ihn. Er stieß die Fahrertür auf und erbrach sich
auf den lehmigen Boden. Krämpfe schüttelten ihn, und wieder verlor er das
Bewusstsein.
Das Nächste, was er hörte, war der Klingelton seines Handys. Es
läutete ausdauernd, aber er schaffte es nicht, hochzukommen. Das Handy
verstummte, aber schon Sekunden später läutete es erneut.
Sebastian zwang sich auf. Es würde sein Vater sein, der ihn suchte.
Er hatte keine Ahnung, was er ihm sagen sollte. Das Handy lag im Handschuhfach.
Er nahm es heraus und hielt sich das Display dicht vor die Augen. »Unbekannter
Teilnehmer«, meinte er entziffern zu können. Vaters Nummer wurde immer
angezeigt. Er starrte das Gerät an, bis es zu klingeln aufhörte. Aber wieder
dauerte die Pause nur ein paar Sekunden.
Er nahm das Gespräch an, ohne sich zu melden.
»Bist du endlich wach, Sebastian?«, sagte eine Stimme.
»Wer ist da?«, wollte er fragen, aber er brachte nur ein
unartikuliertes Krächzen hervor.
»Überanstreng dich nicht. Entspann dich.« Die Stimme war kühl, fast
gelangweilt. Sie klang seltsam, irgendwie elektronisch verändert.
Sebastian hustete. »Polizei«, stieß er hervor. »Hilfe!«
»Nein, Sebastian«, sagte die Stimme. »Nicht die Polizei.«
»Warum nicht? Doch! Wer ist da eigentlich? Ich brauch Hilfe!«
»Das weiß ich, Sebastian. Aber du brauchst eine andere Art von
Hilfe, als du denkst. Und du brauchst viel mehr Hilfe, als du dir vorstellen
kannst.«
»Sanne! Sanne ist tot! Um Gottes willen …« Er begann zu schluchzen.
»Auch das weiß ich, Sebastian. Schließlich habe ich sie getötet.«
Dieses Mal schaffte er es nicht, die Fahrertür aufzustoßen. Er
kotzte gegen die Seitenscheibe.
»Bist du noch da, Sebastian?«, fragte die Stimme.
»Polizei …«, war alles, was er hervorbrachte.
»Aber Sebastian, hör mir doch zu! Was willst du denn bei der
Polizei?«
»Sie haben Sanne umgebracht. Mörder …!« Er rang um Atem.
»Geh nicht zur Polizei. Denn die wird wissen wollen, wie deine
Fingerabdrücke in das Haus gekommen sind. Vielleicht finden sie ja auch deine
Haare und deinen Speichel auf der toten Susanne Berghofer. Oh … du nennst sie
ja Sanne.«
»Aber ich hab nichts getan!«, stieß Sebastian hervor. Sein Kopf
dröhnte von dem Schlag und dem Schock, und er versuchte verzweifelt, die
Situation zu erfassen.
Die Stimme erklärte sie ihm geduldig.
»Was wird die Polizei wohl glauben, wenn ausgerechnet du sie zu der Frau führst? Wo doch deine Spuren überall
sind? Auf der Tatwaffe sind deine Fingerabdrücke. Du hast sogar Schmauchspuren
an der Hand.«
Sebastian sah ungläubig auf seinen rechten Arm, der immer noch
bewegungsunfähig an ihm herabhing. Hastig legte er das Handy in den Schoß und
hob mit der linken seine rechte Hand an die Nase. Und tatsächlich nahm er den
metallischen Geruch von Schwarzpulver wahr. Er
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