Der Teufel von Mailand
verzaubert: die Wiese, der Nebel, der Regenbogen und Sonia selbst.
Und so plötzlich, wie sie sich aufgetan hatte, schloß sich die Lücke wieder, und die Sonnenstrahlen wurden ausgeknipst. Über die Wiese legte sich wieder der graue Schleier, der Regenbogen war verschwunden.
Aber dort, wo er gewesen war, glomm noch einen Wimpernschlag lang das schmale Band der Farbe, die es nicht gibt.
Sonia stand von der Bank auf und ging den Weg zurück. Langsam und vorsichtig, damit ihr die Verzauberung erhalten blieb.
Anna Bruhin las die überreifen Beeren heraus und legte sie in einen Tupperware-Behälter. So machte sie aus elf Körbchen nicht mehr ganz frischer Erdbeeren acht Körbchen frische. Den Behälter legte sie in den Kühlschrank im Hinterzimmer, die Körbchen kamen zurück in die Auslage. Sie holte die Tafel von draußen herein und änderte sie in »Heute Aktion: Erdbeeren!«. Vielleicht konnte sie damit ein paar Kunden aus dem Sechs-Uhr-Postauto anlocken.
Eine jüngere Frau kam die Dorfstraße herauf. Sie hatte sie schon einmal gesehen. Seit drei Tagen kamen Hotelangestellte an. Die, die nicht mit dem eigenen Auto anreisten, wurden mit der Hotelkutsche von der Station abgeholt. Wo hatte man schon einmal von einem Hotel gehört, das die Angestellten mit der Kutsche abholte?
Die Frau, die jetzt kam, war eine von denen. Sie trug den geschlossenen Schirm in der Hand und war völlig durchnäßt. Ihre schwarze Hose war bis auf Kniehöhe verdreckt, und die Farbe ihrer Schuhe war vor lauter Lehm nicht mehr zu erkennen. Sie ging langsam, mit einem feierlichen Gesichtsausdruck, und schien den Regen nicht zu bemerken.
Anna Bruhin rief ihr ein fröhliches »Allegra!« entgegen. Egal wie übergeschnappt, sie war eine mögliche Kundin.
Aber sie bekam keine Antwort. Die Frau tat, als wäre sie Luft. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, ging sie an ihr vorbei, keine zwei Meter entfernt.
Damit kommst du nicht weit, Mädchen, dachte Anna Bruhin. Die Hochnäsigen mögen wir nicht hier oben.
Sonia lag in der Wanne. Sie hatte die Augen geschlossen und zählte die Tropfen, die in großen Abständen aus der altmodischen Armatur ins Badewasser fielen. Sie war bei dreihundertzweiundvierzig. Ursprünglich wollte sie bei hundert aus dem Bad steigen. Dann hatte sie die Frist auf zweihundert verlängert, dann auf dreihundert und dann auf endgültig dreihundertfünfzig.
Jedesmal, wenn sie das Bild des Regenbogens abrief, konnte sie seine Farben fühlen, und die Verzauberung stellte sich wieder ein. Und jedesmal, wenn das Gefühl verebbte, wurde es von einer wachsenden Beunruhigung abgelöst.
Seit jener Nacht im Meccomaxx verfolgten sie diese Trugbilder. Sie hatte gehofft, sie zurücklassen zu können wie ihre Möbel, aber jetzt schienen sie sogar noch intensiver zu werden. Was war los mit ihr? War sie am Durchdrehen? Hatte sie den Absprung verpaßt? War von ihrem Lebenswandel der letzten Monate ein bleibender Schaden zurückgeblieben?
Dreihundertsechsundvierzig.
War es zu spät für einen neuen Anfang? Sollte sie morgen abreisen? Die Einwilligung von Frédérics Anwalt unterschreiben und sich ihrerseits in psychiatrische Behandlung begeben?
Fünfhundert.
Sie hörte auf zu zählen. Aber sie stand nicht auf. Sie würde noch so lange bleiben, bis das Wasser zu kühl geworden war. Ab sofort verbot sie sich, heißes Wasser nachzufüllen.
Vielleicht hatte sie sich überschätzt. Sie war nicht so stark, wie sie tat. Sollte doch Frédéric gewinnen. Dann würde er sie vielleicht in Frieden lassen. Er war, wie alle schlechten Verlierer, ein großmütiger Sieger.
Sie öffnete die Augen. Inzwischen war es dunkel geworden. Einer der Spots, die die Fassade des Hotels beleuchteten, warf ein wenig Licht ins Fenster. Sie sah den Vogelkäfig und die Silhouette von Pavarotti. Er stand auf einem Fuß, der Kopf steckte in seinem Rückengefieder, und er schlief.
Sonia ließ heißes Wasser nachlaufen.
Das Klingeln eines Telefons riß sie aus dem Schlaf, und schon stand sie triefend in der Wanne. Ihr Herz klopfte rasend. Sonia stieg aus der Wanne, hüllte sich in das Badetuch, ging in ihr Zimmer und nahm ab.
»Hast du geschlafen?« Es war Malus Stimme.
»Ich lag in der Badewanne.«
»Soll ich später anrufen?«
»Jetzt bin ich schon raus.«
»Weshalb beantwortest du meine SMS nicht?«
Sonia fiel ein, daß sie seit dem Abendessen mit ihrer neuen Chefin das Handy nicht mehr eingeschaltet hatte. »Das Handy ist
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