Der Teufel von Mailand
Erinnerungen und Anekdoten an, bis sie ihm endlich gute Nacht wünschen konnte. Als sie von der Treppe aus einen letzten Blick in die Halle warf, stand er wieder hinter dem Empfangstresen. Er sah aus, als hätte er sie bereits vergessen. Aber er lächelte noch immer. Jetzt merkte sie, daß das kein Lächeln war. Es war die Grimasse eines erschöpften Langstreckenläufers.
Sobald sie das Zimmer betrat, wußte sie, daß sie nicht nur aus Höflichkeit bis jetzt ausgeharrt hatte. Sie hatte es möglichst lange hinauszögern wollen, wieder allein in diesem Raum zu sein.
Sie schaltete den Fernseher ein. Die Wiederholung einer Talk-Show, die Wiederholung eines Italowesterns, die Wiederholung eines Politmagazins, die Wiederholung der Tagesschau. Im Nordwesten ging einer um, der trächtigen Kühen die Zitzen abschnitt.
Als sie die Augen aufschlug, war es hell im Zimmer. Sonia sprang aus dem Bett. Um acht Uhr hatte sie ihren Dienst anzutreten.
Aber die Uhr zeigte erst kurz vor sechs. Sie durfte sich noch einmal hinlegen.
In ihrem Kopf herrschte das taube Gefühl, das sie nach wilden Nächten hatte. Aber das gestern war keine wilde Nacht gewesen. Ein paar Gläser Wein und zwei Bierchen mit Herrn Casutt. Vielleicht war das ein gutes Zeichen. Vielleicht war sie schon so entgiftet, daß sie ein Abend wie der gestrige bereits umhaute.
Sie verschränkte die Arme hinter dem Kopf und fixierte ein Astloch an der Täfelung der Dachschräge. Auch ein alter Trick, mit dem sie an einem Morgen wie diesem etwas Klarheit in den Kopf bringen konnte.
Plötzlich bewegte sich das Astloch. Es schwamm wie ein Stück Treibgut über die Täfelung. Sonia kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder. Das Astloch bewegte sich noch immer.
Ein zweites Astloch bewegte sich. Es trieb in der gleichen Geschwindigkeit aus einer anderen Richtung auf das gleiche Ziel zu: Ein großes Astloch im oberen Drittel der Dachschräge.
Dieses war das einzige, das sich nicht bewegte. Alle andern zog es zu diesem Punkt. Auf einer unsichtbaren zähflüssigen Masse strebten sie darauf zu.
Das erste kleine Astloch verschwand im größeren. Umrundete es einmal spiralförmig wie ein Stück Schaum den Abfluß der Badewanne – und war weg.
Dann das nächste. Und das nächste. Und das nächste. Die Astlöcher der ganzen Täfelung wurden vom größten aufgesogen. Bis nur noch das große Astloch übrig war.
Und dann begannen sich die Fugen zwischen den Brettern zu verziehen. Sonia sah, daß sich eine gewaltige Kraft im Innern des verbliebenen Astlochs befinden mußte. Die beiden ihm am nächsten liegenden Fugen wurden von ihr erfaßt und eingesogen wie zwei weichgekochte Spaghetti.
Eine Fuge nach der andern geriet in diesen gewaltigen Sog und verschwand mit peitschendem Ende in der runden Öffnung.
Zurück blieb eine Fläche von einer Reinheit, wie sie Sonia noch nie gesehen hatte. Aber die Farbe kannte sie: Es war die, die sie am Rand des Regenbogens gesehen hatte.
Über ihr leuchtete in der gleichen durchsichtigen Eigenartigkeit wie an jenem Nachmittag die Farbe, die es nicht gibt.
Als sie in die Halle herunterkam, hatte der Ficus keine Blätter mehr.
Kahl standen die filigranen Äste vom hellgrauen Stämmchen ab, und die Polstergruppe, auf der Sonia mit Herrn Casutt gesessen hatte, war mit dem glänzenden immergrünen Laub bedeckt. Daneben kniete der Nachtportier mit seinem grotesken Lächeln, kehrte die Blätter zusammen und füllte sie in einen großen Kehrichtsack.
»Die waren doch noch alle dran, gestern nacht«, stammelte er, als er Sonia sah.
Sie erinnerte sich, daß ihr ein paar Blätter auf dem Teppich aufgefallen waren, aber sie hatte sich nichts dabei gedacht.
»Als Sie raufgingen, habe ich mich etwas hingelegt, und als ich wieder rauskam…« Er zeigte hilflos auf die Blätter.
Der Anblick der verendeten Zimmerpflanze hatte etwas Bedrohliches. Ein Gerippe, das aus einem Topf ragte.
Die Empfangshalle sah aus wie ein Tatort: Hinter dem Empfangstresen telefonierten mit ernster Miene Barbara Peters und Michelle, Herr Casutt sah aus, als sicherte er die Spuren, und jetzt traf auch noch Igor mit einem Schiebekarren ein, für den Abtransport des Opfers.
Sonia wollte etwas Tröstliches zu Herrn Casutt sagen, aber sie spürte, daß sie kein Wort herausbringen würde, und flüchtete sich in den Wellness-Bereich.
Das Rauschen der Wasserfälle empfing sie und der Geruch nach Chlor und ätherischen Ölen. Sie rannte die Treppe hinunter in den Personalraum
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