Der Teufel von Mailand
und heulte los. Sie wußte nicht, ob über die Pflanze, ob aus Einsamkeit oder über die Halluzinationen nach dem Erwachen.
Und noch jemand weinte. Es klang wie ein Kind. Sonia schneuzte sich, trocknete die Tränen, öffnete die Tür und lauschte.
Das Weinen war etwas leiser geworden. Sie ging den Korridor hinunter. Es kam aus einem der Behandlungsräume. Jetzt wurde es wieder laut und verzweifelt. Es stammte von einem Kind, dem Schmerzen zugefügt wurden. Sie öffnete leise die Tür.
Frau Felix hielt mit konzentrierter Miene einen kleinen Jungen auf das Massagebett gedrückt. Sie zwang ihn in eine seltsame Verrenkung, aus der er sich vergeblich zu befreien versuchte. Daneben stand eine rundliche jüngere Frau und schaute zu. Sie trug ein seltsames Lächeln. Aufmunternd? Schadenfroh? Hilflos?
Die beiden Frauen sahen jetzt erschrocken zu Sonia herüber. Keine sagte etwas, nur das Kind weinte noch ein wenig verzweifelter.
»Verzeihung.« Sonia schloß die Tür.
Die Straße nach Val Grisch glänzte naß, von der Bergkette waren nur die Ausläufer zu sehen. Hans Wepf steuerte seinen VW -Bus mit der Aufschrift »Wepf Pflanzen und Gartenbau« durch die engen Kurven.
Heute morgen hatte ihn die Besitzerin des Gamander auf dem Handy erreicht und ihm praktisch befohlen, alles stehen- und liegenzulassen. Der Ficus benjaminii, den er ihr vor sechs Wochen geliefert hatte, habe über Nacht alle Blätter verloren. Sie erwarte ihn noch an diesem Vormittag mit einem neuen und identischen Exemplar.
Er hatte die ganze Gartenanlage des Gamander gemacht und die ganze Innenbegrünung. Und er hatte einen einjährigen Schnittblumenvertrag mit einer Verlängerungsoption. Barbara Peters war eine gute Kundin. Vielleicht nicht seine beste, aber bestimmt seine schönste.
Also hatte er die Beaufsichtigung der Gartenarbeiten für einen andern Kunden seinem Vorarbeiter übergeben und im Pflanzenlager eine ähnliche Birkenfeige gesucht. Die, die er schließlich gefunden hatte, war etwas kleiner. Falls sie sich daran störte, würde er sagen: Aber dafür hat sie Blätter.
Nein, das würde er natürlich nicht sagen. Er würde ihr anbieten, diese so lange dortzulassen, bis er eine größere gefunden hatte.
Über Nacht alle Blätter verloren. Hatte er noch nie gehört. Innerhalb einer Woche, vielleicht. Aber über Nacht?
Zwischen Storta und Val Grisch gab es drei Haarnadelkurven. Vor ihm lag die zweite. Während der Arbeiten im Gamander war ihm hier einmal das Postauto auf der falschen Straßenseite entgegengekommen. Er schaltete einen Gang runter und hielt sich so weit rechts wie möglich.
Gerade als er wieder beschleunigen wollte, sah er den Pajero kommen. Er hatte die Kurve geschnitten und fuhr direkt auf ihn zu. Der Fahrer sah den VW -Bus jetzt auch, bremste und riß das Steuer nach rechts. Der Geländewagen zog einen Tankanhänger, der in Zeitlupe auszubrechen begann. Hans Wepf mußte hilflos zuschauen, wie der Anhänger auf ihn zutrieb. Kurz vor dem Aufprall schlenkerte er auf die andere Seite und verfehlte den VW -Bus um Zentimeter. Im Rückspiegel sah Wepf den Wagen mit seinem schlingernden Anhänger in der Kurve verschwinden.
Er hatte den Motor abgewürgt. Jetzt startete er ihn und fuhr aus der Kurve hinaus. Ein Stück weiter oben hielt er an der Böschung und schaute auf die Straße hinunter, die sich in weiteren Kurven talwärts wand. Er war darauf vorbereitet, den Pajero samt Anhänger neben der Straße liegen zu sehen, aber er sah ihn gerade noch hinter einer Kuppe verschwinden. »Arschloch«, sagte er und fuhr weiter.
»Es ist normal, daß Kinder während einer Vojta-Behandlung weinen!« Frau Felix war in den Personalraum hereingeplatzt und schaute Sonia herausfordernd an.
»Ich weiß. Genau das stört mich daran.« Sonia war während ihrer Ausbildung mit der Vojta-Therapie in Berührung gekommen. Sie wurde vor allem bei Kindern mit motorischen Störungen angewendet und beruhte auf der Erkenntnis, daß sich durch bestimmte Reize reflexartige Bewegungsabläufe auslösen lassen können. Und daß man diese Reaktionen verstärken konnte, indem man sie mit der einen Hand auslöste und mit der andern unterdrückte. Als Sonia zum ersten Mal zusehen mußte, wie ein Therapeut einem weinenden Kind den Daumen zwischen die Rippen drückte und es gleichzeitig daran hinderte, sich wegzudrehen, war ihre Meinung gemacht.
»Ich gebe seit über zwanzig Jahren Vojta-Behandlungen und könnte Ihnen Hunderte von Briefen dankbarer Eltern zeigen.
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