Der Teufel von Mailand
stand Pavarottis zugedeckter Käfig. Sie ging zum Waschbecken und drehte den Hahn auf, bis das Wasser kalt wie Gletscherwasser floß.
Sie füllte das Zahnglas und trank. Es schmeckte wie kaltes Wasser. Keine Form, keine Farbe, kein Klang.
Sie legte sich wieder ins Bett.
Und wenn er es selbst gewesen war? Er hätte den Anruf aus dem Büro erfinden können, und er hätte die ganze Nacht Zeit gehabt, die Säure in den Pflanzentopf zu schütten und die Leuchtstäbe im Pool zu versenken.
Aber aus welchem Grund?
Aus keinem. Vielleicht war er einfach nicht ganz richtig im Kopf. Und sein gefrorenes Lächeln war das irre Grinsen eines Verrückten.
Vor vielen Jahren bei einem Qi-Gong-Kurs im Fürstenhof in Bad Waldbach hatte sie gelernt, Gedanken vorbeiziehen zu lassen wie Wolken. Aber Casutt, der grinsende Verrückte, blieb schwarz und schwer über ihr hängen.
Die Glocke schlug die halbe Stunde.
Ein kühler Morgen. Vor dem Postgebäude lud der Chauffeur einen Postsack aus dem ersten Postauto. Im Vorbeirennen nickte Sonia ihm zu. Sie trug Tracksuit und Joggingschuhe, ein neuer Versuch, ihren Geist durch ihren Körper abzulenken.
Frau Bruhin stand mit verschränkten Armen in einer Strickjacke vor dem Laden. Auf der Tafel stand: »Aktion: Geranien!« Sonia trabte vorbei und winkte ihr zu.
Nach zwanzig Meter bog sie in ein Seitensträßchen. Es war der Anfang eines Wegs, der in einem großen Bogen um das Dorf herumführte. Er begann mit einer giftigen Steigung, aber danach schlängelte er sich gutmütig an ein paar Höfen und Ferienhäusern vorbei zurück zur Hauptstraße hinunter.
In der Steigung ging Sonia die Luft aus. Sie hörte auf zu rennen und stapfte die letzten zwanzig Meter zur Wegkuppe hinauf. Dort blieb sie stehen und verschnaufte.
Ein Stück weiter vorn, vor einem Bauernhaus, stand der Geländewagen mit dem Milchtank. Der Fahrer war nicht zu sehen. Trotzdem machte Sonia kehrt. Sobald sie sich außer Sichtweite fühlte, begann sie wieder zu rennen.
Auf der Höhe der Kirche ging sie bereits wieder im Schritttempo, die Hände in die Seiten gestützt, den Blick vor sich auf die Straße gerichtet. Deshalb sah sie die Frau erst, als diese sie ansprach.
»Darf ich Sie etwas fragen?«
Es war die Frau, die ihren Jungen zu Frau Felix in die Behandlung brachte.
»Natürlich«, keuchte Sonia.
»Sie sind doch auch Krankengymnastin.«
Sonia nickte und versuchte, ihre Atmung zu kontrollieren.
»Ich habe ein spastisches Kind – Christoph.«
»Ich weiß.«
»Seit bald einem Jahr mache ich mit ihm diese Behandlung. Dreimal die Woche mit Frau Felix und zweimal am Tag zu Hause ohne sie. Aber ich sehe keinen Fortschritt. Und das Weinen wird immer schlimmer.«
Die Frau hatte Tränen in den Augen. »Frau Felix sagt, diese Vojta-Therapie sei das einzige, was hilft. Stimmt das?«
Sonia zögerte mit der Antwort. Aber dann sagte sie: »Es gibt auch eine Therapie nach Bobath.«
»Wie ist die?«
»Sanfter.«
»Können Sie das?«
»Leider nein.«
Die Frau sah sie so verzweifelt an, daß Sonia hinzufügte: »Aber bestimmt gibt es jemanden im Engadin.«
Die Frau gab Sonia die Hand. »Danke. Ich heiße Ladina.«
»Sonia.«
Sie blickte ihr nach, wie sie die Dorfstraße hinunterging. Sie war nicht viel älter als dreißig. Aber aus der Ferne sah sie aus wie eine alte Frau.
Wie eine Filmkulisse stand das Gamander im Scheinwerferlicht der frühen Morgensonne vor einem unheilvoll schwarzen Himmel. Als Sonia in ihr Zimmer kam, bauschte sich der Vorhang vor dem halboffenen Kippfenster, und ein träges Donnergrollen war zu vernehmen. Sie schloß das Fenster und ging unter die Dusche.
Als sie aus dem Bad kam, war es im Zimmer so dunkel, daß sie Licht machen mußte. Draußen fiel der Regen in dicken Schnüren.
Auch in der Bäderhalle brannte Licht. Der Wind trieb den Regen in Böen gegen die Glaswand. So dunkel war es draußen, daß Sonia ihr Spiegelbild sah. Klein und verlassen stand sie am Rand des Thermalbeckens wie am Ufer eines tiefen Flusses.
Im Sportbecken schwamm Barbara Peters unbeirrt ihre Längen. Sonia ging die Treppe hinunter zu den Behandlungsräumen.
Im Personalraum war Manuel. Er hatte die Fersen seiner nackten Füße gegen die Wand gelehnt, die Augen geschlossen, und stand auf dem Kopf. Sonia schloß leise die Tür und ging in den Ruheraum. Dort war es dunkel, bis auf das Licht des Aquariums. Sie ging zum Lichtschalter.
»Bitte nicht.«
Sonia zuckte zusammen.
»Verzeihung, ich wollte Sie nicht
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