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Der Teufel von Mailand

Der Teufel von Mailand

Titel: Der Teufel von Mailand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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seine Eltern. Wie seine Geschwister. Wie alle, denen er nacheiferte.«
    Manuel lehnte sich im Sessel zurück wie ein Kind bei der Gutenachtgeschichte. »Und dann?«
    »Das Übliche: Er hatte Affären, und das machte nichts. Ich hatte Affären, und das machte was.«
    »Und dann habt ihr euch getrennt.«
    »Ich mich. Er wollte sich ›zusammenraufen‹. Ich bin nicht sehr rauflustig, da bin ich ausgezogen und habe die Scheidung eingereicht.«
    »Und verloren?«
    »Gewonnen.«
    »Weshalb mußt du denn arbeiten? Ich dachte, der hat Kohle.«
    »Ich muß nicht. Ich will.«
    »Und weshalb um Himmels willen?«
    »Erzähl ich dir ein andermal.«
    Der Pianist hatte aufgehört zu spielen. Sonia winkte ihn an den Tisch.
    »Spinnst du?« raunte Manuel.
    Der Pianist zeigte auf sich und schaute sie fragend an. Sonia nickte. Er stand auf und kam zum Tisch. Sonia lud ihn ein, sich zu setzen. Er bestellte ein Bier.
    Bob Legrand war Konzertpianist aus Quebec. Er war mit einem Kammerorchester auf Europatournee gewesen und nach Tournee-Ende geblieben, bis ihm das Geld ausgegangen war. Der Job im Gamander war sein erster als Barpianist.
    Nach genau fünfzehn Minuten Pause ging er zurück an den Flügel.
    »Was hab ich gesagt«, seufzte Manuel. »Definitiv nicht.«
    Sonia widersprach ihm nicht.
unten weint eine frau
welcher stock
weiß nicht was soll ich tun
polizei rufen
die wird fragen was ich hier tue
du bist zu besuch
ok
    Die Nachricht hatte Sonia aus einem oberflächlichen alkoholisierten Schlaf geholt.
    Sie war lange in der Bar geblieben. In jeder Pause war Bob an ihren Tisch gekommen und hatte ein Bier getrunken. Sie hatte jedesmal mit einem Glas Champagner mitgehalten. Um elf hatte sich Manuel entschuldigt. Sie war bis zum Schluß geblieben.
    Jetzt war es kurz nach halb zwei. Sie versuchte, wieder einzuschlafen. Aber jetzt war ihr Körper da. Sie spürte ihren Puls. Sie wurde sich eines hohen Tons im linken Ohr bewußt. Im Nacken saß ein leichter Stich, der sich bis zum Morgen zu Kopfschmerzen auswachsen wollte. Und dann fühlte sie noch etwas, das wohl mit dem Pianisten zu tun hatte.
    Sie machte Licht und griff nach ihrem Handy.
sie hat aufgehört
ruf trotzdem an
hilfe eine frau hat aufgehört zu weinen
    Sonia schaltete das Handy aus und holte sich das Sagenbuch von der Waschkommode ins Bett.
    Zwischen den Seiten steckte eine schwarzweiße Postkarte. Sie zeigte eine Ziegenherde, die durch ein Dorf getrieben wurde, und die Aufschrift »Grüße aus dem Unterengadin«. Die Karte war unbeschrieben, aber jemand hatte mit Kugelschreiber den Kopf des Bocks an der Spitze der Herde eingekreist. Die Karte diente als Buchzeichen für die Titelgeschichte.
Der Teufel von Mailand
Weit oben, ganz zuhinterst im Val Solitaria, dort, wo auch im Hochsommer die Sonne nie länger als drei Stunden hinscheint und die Eiszapfen bis Maria Heimsuchung im Felsen glitzern, lag einst die Alp Dscheta. Von einem bißchen hartem Gras und einer immer wieder zufrierenden Quelle konnten gerade zwanzig magere Ziegen und ein Hirtenkind überleben. Kaum ein Scheitlein Holz gab es auf dieser Höhe, um die armselige Hütte zu heizen. Schon früh am Abend trieb das Hirtenkind die Ziegen in die Hütte und legte sich zwischen sie, um nicht zu erfrieren in der Bergnacht.
Nur die Kinder der Ärmsten im Dorf mußten dort oben hirten, und gar manches erlebte den Herbst nicht.
Im kältesten Sommer seit dem Dreißigjährigen Krieg traf es Ursina, das jüngste Töchterchen einer armen Witwe. Ursina war erst neun, zu jung für die Alp Dscheta, aber ihre Mutter gab sie für zehn aus. Sie brauchte die dreißig Kreuzer, die die Bauern pro Sommer für ein Hirtenkind zahlten.
So kalt war jener Sommer, daß zu Sankt Barthel die Ziegen das Gras unter zwei Fuß Schnee hervorscharren mußten und die Euter der Mutterziegen versiegten. Bald war das letzte Stückchen Ziegenkäse gegessen und das letzte Schlückchen Milch getrunken. Schlotternd und hungrig saß Ursina inmitten der meckernden Ziegen und betete zu allen Heiligen um Hilfe aus ihrer Not.
Aber je inbrünstiger sie betete, desto beißender blies der Wind durch die Ritzen der schiefen Hütte und trieb ihr nadelscharfe Eisflocken ins Gesicht. »Ach«, rief sie schließlich verzweifelt aus, »wenn mir die Engel nicht helfen wollen, so sollen mir die Teufel helfen!«
Augenblicklich legte sich der Wind, und in die Stille der Hütte sprach eine tiefe Stimme: »Der Teufel von Mailand hilft besser als der Heiland.«
Die Stimme kam vom

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