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Der Thron der Welt

Der Thron der Welt

Titel: Der Thron der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Lyndon
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gesagt, er sollte mit dem linken Fuß vorangehen, aber auch der biegsamste Schlangenmensch hätte den Fuß nicht so weit vorstrecken können. Wenn er seinen rechten Fuß vorschob, so gut es ging, kam er ebenfalls nur mit der Fußspitze an die Trittvertiefung. Er würde springen müssen, doch selbst wenn er mit dem Fuß den Tritt erwischte, gab es keine Möglichkeit, sich mit den Händen irgendwo festzuhalten. Ein halbes Dutzend Mal spielte er die Bewegung im Geiste durch, so stumpfsinnig wie ein Insekt. Dann drehte er sich um. Glum deutete auf sein linkes Bein, seine Rufe wurden vom Wind weggetragen.
    Wayland spürte, wie sowohl seine Willenskraft als auch seine Körperkraft nachließen. Dann übermannte ihn die grauenvolle Vorstellung, der Berg wolle ihn von sich stoßen, und er presste sein kaltes Gesicht an den Stein und klammerte sich fest. Ein Blick hinunter in die Tiefe zeigte ihm, wie langsame, übelkeiterregende Wellen auf den Strand liefen. Schwach drangen Rufe an sein Ohr. Glum hatte sich gefährlich weit über die Felskante gelehnt und ahmte eine hüpfende Bewegung nach, die darin zu bestehen schien, zunächst mit dem rechten Fuß in den Tritt zu springen, sofort mit dem linken Fuß zu folgen, und gleichzeitig die rechte Hand um die Felsnase zu schlingen. Wayland sah an den Seilen entlang, die schräg über den Steilhang liefen. Wenn der Versuch scheiterte, würde er im besten Fall dreißig Fuß tief an der Felswand entlang abstürzen. Im schlechtesten Fall würden die Seile reißen, und er hätte, bis zu dem Moment, in dem er mit zerschmetterten Gliedern irgendwo in den Felsen starb, genügend Zeit, über sein Ende nachzudenken.
    Oder er könnte aufgeben. Seine Waden zitterten, und in den Fingern hatte er kein Gefühl mehr. Er nahm eines der Seile in die Hand und bereitete sich darauf vor, das Zeichen zu geben. Er warf einen letzten Blick auf die Felsnase. Er hielt inne. Glum hat recht, dachte er. Wenn dieser Fels sechs Fuß hoch wäre, würde man sich keinerlei Gedanken machen – mit dem rechten Fuß abspringen, den Tritt treffen, ausbalancieren, mit dem linken Fuß folgen, und sich nach einem kurzen Moment der Schwerelosigkeit wieder abstoßen und den Arm um die Felsnase schlingen.
    Glum hatte aufgehört zu rufen. Wayland wischte sich über die Nase, atmete tief ein, konzentrierte sich, beugte das linke Knie und sprang. Zwei schnelle Schritte, und er warf den Arm um die Felsnase. Als er wusste, dass er nicht abstürzen würde, schlang er auch sein rechtes Bein um den Felsen und tastete auf der anderen Seite nach einer trittsicheren Stelle. Zuerst war da nichts, dann berührte er einen kleinen Vorsprung. Er dachte nicht mehr nach, sondern legte sein ganzes Gewicht auf den Fuß und schob sich an der Felsnase vorbei.
    Nur ein Schritt trennte ihn noch von sicherem Grund. Über ihm führten rissige Felsen, über die kalkweiße Kotspuren liefen, wie eine Leiter zu dem Nestsockel. Er zog sich hinauf, kam mit den Ellbogen über die Kante und hievte sich in den Horst.
    Drei zischende Nestlinge warfen sich zur Seite und streckten ihre Krallen aus. Sie waren hässlich. Struppige Jungvögel, in deren schmutziggrauem Flaum sich erstes Gefieder zeigte. Das Falkenweibchen kreiste immer noch über dem Nest, konnte jedoch wegen des Felsüberhangs nicht angreifen. Eine eben getötete Möwe lag in dem Horst, winzige Stückchen ihres dunkelroten Fleisches klebten an der wächsernen Nasenhaut der Nestlinge. Wayland setzte sich mitten in den Horst, als wäre er ein Thron, und genoss den Blick Gottes über die Welt. Die Flechten auf dem Felsgestein waren goldfarben, silberne Adern zogen sich durch den Granit, eine kleine rosafarbene Blume bebte im Wind.
    Als er aus seiner Träumerei erwachte, fror er erbärmlich. Er glaubte, Stimmen gehört zu haben, und ahnte, dass sie schon einige Zeit nach ihm riefen. Die Nestlinge lagen immer noch auf der Seite und wehrten ihn mit ihren Krallen ab. Er zitterte. Wolken waren aufgezogen, und das Wasser des Fjords hatte sich schiefergrau verfärbt. Zeit zu gehen. Er nahm die Seile in die Hand und zog dreimal.
    Dieses Mal kletterte er ohne zu zögern um die Felsnase. Es war keinen Augenblick zu früh. Düstere Wolken kamen vom Meer herein, und Nebelfinger tasteten sich an den Klippen hinauf. Sobald er auf dem Sims war, nahm das Falkenweibchen seine Angriffe wieder auf. Wayland beachtete es nicht und bewegte sich schnell weiter, bis er die Stelle erreicht hatte, an der er seiner Erinnerung

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