Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
müssten jeden dieser Schreine so behandeln, als wäre er der letzte in Tibet, der letzte aufder ganzen Welt, denn eines Tages würde einer von ihnen es sein. Peking duldete solche geheimen Kultstätten nicht. Die Kriecher hatten spezielle Teams, Gottkiller-Kommandos, die Dynamit und sogar tragbare Presslufthämmer benutzten, um sie zu zerstören. »Jamyang würde das nicht wollen. Er war das genaue Gegenteil eines Gottkillers.«
Lokesh hatte unterdessen nicht aufgehört, die uralten Worte des Bardo zu flüstern, auch während Shan redete, aber nun hielt er inne. »Die alten Klosterruinen sind näher«, sagte er mit heiserer Stimme. »Wahrscheinlich sind Nonnen aus der Einsiedelei dort zugegen und helfen beim Wiederaufbau.« Er hob Jamyangs Schultern an und bedeutete Shan, er solle die Füße nehmen.
***
Shan hielt mit dem Pick-up am Rand eines breiten ansteigenden Simses und kletterte schnell zur Kante empor, um sich zu vergewissern, dass bei dem verlassenen Kloster, das vor fünfzig Jahren weitgehend zerstört worden war, keine neuen Fahrzeuge standen. Schon beim ersten Blick auf die unterhalb gelegenen Ruinen zuckte er erschrocken zurück, holte hastig sein Fernglas aus dem Wagen und stieg abermals das Sims hinauf. Das letzte Stück kroch er bäuchlings bis zum Rand.
Dort unten herrschte rege Betriebsamkeit. Shan hatte mit dem Lastwagen gerechnet, den er zuvor aus einiger Entfernung entdeckt hatte, und vielleicht mit einigen der Traktoren und Esel, wie sie von den einheimischen Tibetern benutzt wurden. Stattdessen parkten am vorderen Tor ein Krankenwagen sowie drei der Geländefahrzeuge, die die Polizei bevorzugte. Im Innenhof standen mehrere Uniformierte versammelt.
Shan drehte sich um und schaute in Richtung des südlichen Horizonts, zu einem fernen Berg. Dort befand sich das Straflager, in dem sein Sohn Ko, sein einziges Fleisch und Blut,inhaftiert war. Shan hatte sein Dasein als hochrangiger Ermittler schon vor langer Zeit aufgegeben. Er hatte sogar Angebote abgelehnt, nach Peking zurückzukehren, trotz seiner Jahre als Gefangener des Gulag. Aber seinen Sohn würde er niemals im Stich lassen. Er lebte in Zwei-Wochen-Intervallen, für jeweils den ersten Sonntag eines Monats, wenn er Ko besuchen durfte, und für den Brief in der Mitte des Monats, den er ihm schreiben durfte. Oberst Tan, der eisenharte Militärkommandant des Bezirks, hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass Shan sämtliche Besuchsrechte verlieren würde, falls er Tan irgendwelche Probleme bescherte. Nein, Shan würde seinen Sohn niemals im Stich lassen – genauso wenig wie er die alten Tibeter im Stich lassen würde.
Die Polizei konnte aus allen möglichen Gründen über die Klosterruine hergefallen sein. Der wahrscheinlichste Anlass war, dass sie vermuteten, Schmuggler würden den Ort nach Artefakten durchstöbern. Falls die Beamten jedoch beschlossen, die verängstigten Tibeter zu verhören, die beim Wiederaufbau der alten Gebäude halfen, könnte einer der Leute ihnen durchaus von Jamyangs Schrein erzählen. Shan wurde sich noch einer weiteren schrecklichen Möglichkeit bewusst. Falls die Polizei Lokesh mit der Leiche und einer illegalen Pistole aufgriff, würde dies das Ende des alten Mannes bedeuten, und der Gedanke war für Shan unerträglich. Er musste wissen, was die Polizei vorhatte, und sie irgendwie von dem Grat fernhalten, damit Jamyangs unersetzliche Reliquien nicht den Gottkillern in die Hände fielen. Er schlich sich das Sims hinunter zu seinem Pick-up und klopfte sich den Staub von der Kleidung.
Eine halbe Stunde später stand er hinter den Ruinen im Schatten. Seinen Wagen hatte er noch ein Stück weiter hinten zwischen einigen Felsvorsprüngen zurückgelassen. Er rief sich die Anordnung der alten Gebäude eilig ins Gedächtnis. DasKloster war zwar nur klein gewesen, aber bei seiner Errichtung hatte man sich strikt an die buddhistische Tradition gehalten. Unterhalb des Innenhofs lag die dukhang , die Versammlungshalle, mit Nebenkapellen entlang der Wände. Im rückwärtigen Bereich hatte es zwei kangtsangs gegeben, Wohngebäude, sowie die kleinen düsteren Kapellen, die für Schutzdämonen reserviert waren und in denen die Restauratoren einige der wichtigsten aus dem Schutt geborgenen Artefakte verstaut hatten. In der Mitte des Innenhofs stand ein chorten , einer der uralten Reliquienschreine mit ballonförmiger Kuppel und Spitze, der hier als erstes Bauwerk wiederhergestellt worden war. Erst vor ein paar Wochen hatten
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