Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
für gewöhnlich im Schutz der Nacht.
»Ja«, berichtete er. »Ich sehe einen Lastwagen.«
Der Lama nickte. »Ich komme gleich zu dir«, sagte er und bedeutete Shan, er möge zum Wagen gehen. Shan setzte sich ans Steuer und beobachtete, wie Jamyang die Gebetsfahnen abschritt, eine jede dabei berührte und Worte murmelte, die sie zu ihrer Aufgabe befähigen würden. Dann wandte er sich dem Berg zu und ließ sich jäh zu Boden fallen, um sich wie ein Pilger bäuchlings vor Yangon auszustrecken.
Bis sie den Wagen geparkt hatten und den knappen Kilometer zur Hütte des Lama emporgestiegen waren, war es später Nachmittag. Das kleine Gebäude, in dem Jamyang schlief – ursprünglich ein Unterschlupf der Hirten –, war so karg wie die Zelle eines Einsiedlers. Der Lama verbrachte den größten Teil seiner Zeit in der oberhalb gelegenen flachen Höhle, in der er ein uraltes Basrelief restauriert hatte, das mehrere Gottheiten und heilige Symbole zeigte.
In der Hütte erweckte Shan die schwelende Glut der Kohlenpfanne zu neuem Leben und legte etwas von dem getrockneten Yakdung nach, den der Lama als Brennstoff sammelte. Schweigend tranken sie einen Tee, dann füllte Jamyang einen kleinen Holzeimer mit Wasser, und sie gingen den Pfad hinauf zum Schrein.
Jamyang hatte unterhalb der alten Felsfiguren als provisorische Altäre zwei primitive Bänke aufgestellt, die nun mit Opfergaben bedeckt waren. Es würde weder ein spezielles Gebet gesprochen noch eine Feier angefangen werden, bevor nicht alle Opfer gereinigt waren. Jamyang legte die Gegenstände zurück, die sie dem Dieb abgenommen hatten, und füllte eine Opferschale mit Wasser. Dann brachte er einen Lappen zum Vorschein und fing ehrfürchtig an, die Stücke auf dem Altar zu putzen. Shan schüttete die Asche aus einer kleinen zeremoniellenKohlenpfanne und begab sich auf den Hang, um etwas duftendes Wacholderholz zu sammeln, dessen Rauch die Gottheiten anlockte. Derweil grübelte er über die melancholische, ungewisse Stimmung nach, die sich auf der Rückfahrt über den Lama gelegt hatte. Jamyang hatte so gewirkt, als wolle er Shan gern etwas mitteilen, finde aber nicht die passenden Worte. Nun jedoch war der Lama zu Hause, bei seinem geheimen Schrein, und wieder heiter und gelassen.
Es war in der Tat ein Festtag. Da der schlichte, elegante Schrein wiederhergestellt war, würden Jamyang und Lokesh anfangen, die Tibeter der Gegend herzubringen, damit sie den Göttern huldigen konnten und lernen würden, dass die alten Bräuche nicht vergessen waren. Die Gefahr für den Lama würde immer größer werden. Shan musste den beiden unbedingt begreiflich machen, dass sie nie mehr als eine Handvoll Gläubige gleichzeitig mitbringen durften. Eine größere Gruppe könnte die Aufmerksamkeit der Behörden erregen. Peking bemühte sich sehr, alle Überbleibsel der tibetischen Tradition im Land zu tilgen, würde aber nie Erfolg haben, solange es Männer wie Lokesh und Jamyang gab. Während der letzten Wochen hatten fromme Tibeter an anderen Stellen des Tals damit begonnen, der Polizei durch spontane Gebetsversammlungen die Stirn zu bieten. Angekündigt wurden sie durch den Klang der langen, weithin und tief hallenden dungchen -Hörner, mit denen man einst die Gläubigen in den Tempel gerufen hatte. Die verwegene Gruppe, die dafür verantwortlich war, würde zweifellos auch zu Jamyangs Schrein kommen und die Behörden von hier aus mit ihrem Horn verhöhnen. Shan ertappte sich dabei, dass er wie ein Soldat die Landschaft begutachtete und sich überlegte, wo er als unsichtbarer Wächter der Besucher Position beziehen könnte und welche Fluchtrouten es für die Tibeter gab, wenn die Polizei den Berg heraufkam.
Eine halbe Stunde später, während der duftende Rauch in den ruhigen, klaren Himmel emporstieg, ließ Jamyang sich mit übergeschlagenen Beinen nieder und fing an, den aus dem Stein gehauenen Gottheiten heilige Schriften vorzulesen. Während er sprach, wich auch der letzte Rest Sorge aus seinem Gesicht. Shan setzte sich in der Haltung eines Novizen neben ihn, achtete auf die korrekte Reihenfolge der langen losen Seiten und hielt sie am Boden fest, als der Wind auffrischte. Sein Blick wanderte über die Behelfsaltäre. Jamyang war ein vollendeter Künstler im traditionellen Stil und hatte sich angewöhnt, Alltagsgegenstände mit religiösen Symbolen zu verzieren. Entlang des Randes eines Butterfasses hatte er eine Muschel aufgemalt, einen springenden Fisch, eine Vase und die
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