Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
Restauratoren zurückgelassen hatten, und verweilte dann bei einem kleinen Kreis roter Tropfen neben einer der wenigen verbliebenen Gebetsmühlen, wo offenbar ein Farbtopf gestanden hatte. Jemand hatte das Gestell der Mühle gestrichen und war gestört worden. Auf der Wand dahinter war rote Farbe verspritzt und davor lag ein abgenutzter Pinsel mit rotverklebten Borsten. Die Spritzer bildeten einen hohen Bogen, abgesehen von einem Fleck in der Mitte in einem etwas anderen Farbton, der auch der kleinenLache entsprach, die zwei Meter vor der Mauer austrocknete. Shan steckte seine Hand in einen der Beutel, hob damit den Pinsel auf, steckte ihn in eine andere Tüte und legte ihn zurück an die ursprüngliche Stelle. Als er sich aufrichtete, spürte er den Blick eines Offiziers der Öffentlichen Sicherheit, der am vorderen Tor auf einer Bank im Schatten saß. Seine kalte, harte Miene änderte sich nicht, als Shan ihm zunickte. Er starrte Shan unverwandt an, als ein Untergebener zu ihm gelaufen kam, und starrte weiter, während er dem rangniederen Beamten zuhörte und ihm dann eine kurze barsche Antwort erteilte, die den jüngeren Kriecher wie einen verängstigten Höfling zurückweichen ließ.
Shan erschauderte unwillkürlich, als er sich von dem frostigen Blick des Mannes löste und das Ende des chorten umrundete. Dann erstarrte er abrupt.
Er hatte den Tod in Tibet öfter gesehen, als er sich erinnern wollte, hatte ihn sogar am heutigen Tag schon gesehen, doch ein Gemetzel wie hier im alten Kloster war ihm noch nie untergekommen. In einer roten Pfütze lagen drei Körper am Boden. Sie waren wie ein U angeordnet, die beiden größeren nebeneinander im Abstand von einem Meter zwanzig, der dritte im rechten Winkel zu ihren Füßen. Der Kopf des von Shan am weitesten entfernten Mannes lag nahezu abgetrennt auf der Schulter seines Eigentümers; jemand musste mit einer schweren Klinge mehrmals zugeschlagen haben.
Der parallel dazu liegende Leichnam hatte kein Gesicht. Auf den Kopf des Mannes war eingehackt worden, so dass von seinem Antlitz und den Seiten seines Kopfes nur noch rohes, zerfetztes Fleisch geblieben war. Zwischen all dem Rot schimmerte sein Schädelknochen weiß hervor. Und das Rot war zum größten Teil gar kein Blut, erkannte Shan. Die beiden Leichen waren fast vollständig mit Farbe bedeckt. In der Mitte wurden ihre Hände – eine Linke, eine Rechte – durcheinen Stein am Boden gehalten. Die abgenutzten Wanderstiefel des Gesichtslosen lagen auf dem Bauch des dritten Leichnams, der, so sah Shan nun, einer tibetischen Frau mit einer Wollmütze gehörte. Die teuren Sportschuhe des Geköpften lagen auf ihren Beinen.
Das mechanische Klicken einer Kamera riss Shan aus seiner Erstarrung. Zwei Polizisten fertigten Fotos der Toten an. Er trat hinter sie, umrundete dann die Leichen und zwang sich, genau hinzusehen. Die Frau hatte eine Schusswunde in der Brust. Er erkannte nun, dass die Männer nicht nur in einer großen roten Pfütze lagen, sondern in einem Rechteck, und der Mörder hatte nicht nur rote Farbe benutzt. In der oberen linken Ecke gab es einen großen gelben Klecks mit vier kleineren im Halbkreis rechts daneben. Die braunen Augen des Gesichtslosen blickten leblos auf den chorten , und aus einem Einschussloch in seinem Hals war Blut gesickert. Der andere Mann, dessen Kopf nur noch an ein paar Hautstreifen hing, lag mit dem Gesicht zum Schrein, und seine Miene war zu einem brütenden, zornigen Ausdruck erstarrt. Er war Chinese. Ein Chinese, eine Tibeterin und ein gesichtsloses Ungeheuer, alle drei ermordet im Schatten des Berges, auf dem ein Lama sich gerade erst selbst getötet hatte.
Einer der Polizeifotografen griff sich plötzlich an den Bauch und lief ein Stück weg, um seine letzte Mahlzeit zu erbrechen. Ein junger Offizier tadelte ihn und stieß ihn zurück zu den Leichen. »Der Tatort muss lückenlos dokumentiert werden!«, herrschte er den sich duckenden Polizisten an.
»Die Tatorte.« Shan hatte das nur vor sich hin geflüstert, aber nicht bedacht, wie still es im Innenhof war.
»Du wagst es, mich zu korrigieren?«, zischte der Offizier. »Du …« Er musterte Shan verwirrt.
Shan wollte sich zurückziehen und sah sich auf einmal der Offizierin gegenüber, die ihm zuvor bereits begegnet war. Sieerwiderte seinen Blick erwartungsvoll und wandte ihr schmales Gesicht dann ihrem Kollegen zu. »Ich bin mir nicht sicher, ob die Frage der Zuständigkeit schon geklärt wurde«, verkündete sie,
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