Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)
hat etwas mit dem Rückzug von der Welt zu tun, doch jedesmal, wenn man sich von der äußeren Welt zurückzieht, kann das Licht der Selbsterkenntnis geboren werden, das Licht in der Laterne. Steinbock bedeutet die Geburt des neuen Lichts. Zwar erreichen wir bei der Wintersonnenwende den dunkelsten Tag des Jahres, zugleich erleben wir aber auch die Geburt des neuen Lichts: Allmählich werden die Tage länger, sie klettern mühsam aufwärts – wie der Steinbock im Gebirge. Auch hier sollten wir uns nicht damit abmühen, im Sternbild des Steinbocks das Abbild dieses Tieres zu erkennen, das ist kaum möglich. Dieses scheue Tier, das in der unwirtlichen Berggegend zu Hause ist und so hart ist, dass es dort überleben kann, drückt die Stimmung der Natur im ersten Wintermonat am besten aus. Ein Steinbockbetonter Mensch ist für den Winter des Lebens, für die Härtetests des Lebens gut ausgerüstet. Beim Gegenpol Krebs, bei der Sommersonnenwende, gab die Wärme den Ton an, die mütterliche, nährende Seite der Natur; hier ist es der steinige Erdboden. Wer auf hart gefrorenem Boden überleben möchte, muss selbst hart sein, muss etwas aushalten. Oskar Adler hat den Steinbock als »entsagungsfähig« bezeichnet.
Die Härte, Kälte, Klarheit der Natur, die Einfachheit prägen die Natur des Steinbocks auf geistiger, körperlicher und seelischer Ebene. Ein Leitbild, das zu dieser Naturstimmung passt, ist zum Beispiel ein alter Tibeter, der im Hochgebirge des Himalaja in einem Bergkloster lebt und unter absoluter Entsagung zu innerer Klarheit findet. Es ist eine Klarheit wie die des Bergkristalls, die durch enormen Druck entsteht, wie beim Diamantenschleifen. Es geht um Reduzierung auf das Wesentliche, das Notwendige.
Wie jedes Prinzip hat auch dieses seine Schattenseiten: Im negativen Fall kann diese Lebenshaltung zu Freudlosigkeit und Geiz führen, zu einer Kälte, die mit Erstarren zu tun hat. Dann kommt der Leitsatz der Puritaner zum Tragen: »Tu, was du willst, solange es keinen Spaß macht.« Alles, was nach Freude, Tanz, Leichtigkeit klingt, ist dann verboten; nur was ernst, schwer, anstrengend ist, ist gestattet. Man bekommt ein Problem mit der Sommerseite des Lebens. Interessanterweise wird das alte Preußen dem Steinbock zugeordnet, und das ist durchaus passend, denn die Disziplin, Strenge und Härte gegen sich selbst, die in diesem Staat propagiert wurden, stellen durchaus ein Gesicht der Steinbock-Natur dar. In gewisser Hinsicht ist Deutschland sehr Steinbock-geprägt, weil es sich stark am Leistungsprinzip orientiert, mit dem Risiko der Überbewertung von Leistung und Aktivität. In unserer Gesellschaft achtet man den Helden, der in der äußeren Welt viel zustande bringt, während der Weise, der sich in den inneren Welten auskennt, vergleichsweise schlecht abschneidet.
Schuld und Entsagung
Oskar Adler hat den Steinbock als den Sämann im Ackerland Erde bezeichnet. Es ist das aktive Erdzeichen, und im Gegensatz zu Stier, bei dem es mehr um das Bewahren und Hüten geht, greift der Sämann handelnd in die Welt ein. Er ist mit einer Aufgabe auf die Welt gekommen: Das Leben an sich ist Beruf. Im tieferen Sinne hat die Steinbock-Realität mit dem karmischen Gesetz zu tun, das besagt: »Du erntest, was du säst; alles was du tust, hat Konsequenzen.« Bezieht man den Gedanken der Wiedergeburt in die Astrologie mit ein, so bedeutet das, dass Leben als das Abbezahlen einer Schuld gesehen werden kann, aber auch, dass sich die Seele eines Menschen in jedem Leben eine bestimmte Aufgabe aussucht, um sich ein Stück weiterzuentwickeln. Hätte man alles schon erledigt, bräuchte man nicht wieder in ein Körpergefängnis zu kommen, müsste man nicht wieder in dieser materiellen Welt arbeiten. Allein die Tatsache, hier zu sein, ist dann so zu verstehen, dass wir etwas schuldiggeblieben sind, und kein Zeichen hat so viel Bereitschaft, sich schuldig und verantwortlich zu fühlen, wie Steinbock.
Nehmen wir ein kleines Kind, das von der Mutter geschimpft wird. Ein Feuer-Kind – Widder, Löwe, Schütze – hat in diesem Fall zunächst das Gefühl einer Majestätsbeleidigung, und die Reaktion ist oft: Die Mutter ist böse, weil sie mich schimpft. Bei Steinbock ist die Reaktion genau entgegengesetzt: »Ich bin schuld, wenn die Mutter mich schimpft, ich muss es besser machen, mich mehr bemühen, damit das alles wieder gut wird.« Das sind zwei grundverschiedene Möglichkeiten, auf ein und dieselbe Situation zu reagieren, aber
Weitere Kostenlose Bücher