Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)
Silber und bei Saturn bzw. Steinbock ist es das Blei. Wenn wir saturnische Energie spüren, dann fühlt sich das oft an, als wäre unsichtbares Blei in uns, das alles, was wir tun, schwer und mühsam erscheinen lässt. Dieses Blei kann von außen in unser Leben kommen, zum Beispiel durch strenge, überfordernde Eltern oder durch frühe Schicksalsschläge, die uns gezeigt haben, dass das Leben weniger eine Blumenwiese ist als vielmehr ein Hochgebirge. Steinbockbetonte Menschen spüren diese Schwere oft besonders stark und tun sich vor allem in der ersten Lebenshälfte nicht leicht, das Leben freudvoll zu erleben. Sie müssen sich mit einem inneren Widersacher auseinandersetzen, der auch gefährlich werden kann, da er die Selbstachtung und die Liebe zu sich selbst behindert. Dieser innere Kritiker zeigt einem immer nur das, was man nicht ist, was man noch nicht geschafft hat. Bringt man im Zeugnis neun Einser und eine Zwei nach Hause, dann wird er fragen, warum es nicht zehn Einser sind. Die zentrale Frage ist, wie man mit dieser Strenge umgeht. Denn wenn man diesen unbarmherzigen Begleiter in sein Leben aufnimmt, findet man einen Freund, der einen nicht auslässt, der keine Ausreden und Entschuldigungen duldet, sondern sagt: »Was nicht ist, ist nicht erwähnenswert, was du nicht getan hast, hast du einfach nicht getan.« Die Pflicht ist eben erfüllt oder nicht. Sind wir bereit, uns selbst so ehrlich zu begegnen, uns einfach anzusehen bei dem, was wir tun und was wir nicht tun, dann ist Saturn ein wunderbarer Begleiter, und sein Geschenk ist Klarheit. Mein Freund Frank Moosmüller, der seit vielen Jahren körperorientierte Selbsterfahrungsgruppen leitet, ein Steinbock, stellt seine Gruppen unter das Motto »Wahr reden, wahr handeln«, und das ist ebenso schwer wie einfach. Wer es schafft, von Moment zu Moment nach diesem Motto zu handeln, der hat sich Steinbock-Energie und Saturn zum Freund gemacht.
Ödipus
Machen wir einen Ausflug in die Mythologie, zur Ödipus-Geschichte, die ich als sehr saturnisch empfinde. Hier zusammengefasst die Handlung: Die Geburt des kleinen Ödipus war von einem schrecklichen Orakel überschattet, das besagte, er werde seinen Vater töten und seine Mutter heiraten. Deswegen schickten die Eltern einen Hirten mit dem neugeborenen Kind ins Gebirge, wo er es töten sollte. Der Hirte brachte die Tat nicht übers Herz, und Ödipus wuchs bei einem fremden König auf, den er für seinen Vater hielt. Eines Tages fand am Hof dieses fremden Königs ein Fest statt, und ein betrunkener Soldat sagte zu Ödipus: »Du bist gar nicht der richtige Sohn dieses Königs.« Ödipus war so verwirrt, dass er das Orakel in Delphi befragte, und dort bekam er dieselbe Auskunft, die schon seine Geburt begleitet hatte: »Du wirst deinen Vater töten und deine Mutter heiraten.« Ödipus liebte seine vermeintlichen Eltern sehr und verließ den Königshof, um diese zu schonen. Doch bei dem Versuch, seinem Schicksal zu entrinnen, lief er ihm – ein klassisches Saturn-Motiv – direkt in die Arme. An einem Kreuzweg begegnete er seinem wahren Vater, Laios, und beim Streit um die Vorfahrt erschlug der jähzornige Ödipus ihn, ohne zu ahnen, wer er war. Später kam er zur Sphinx, deren Rätsel er löste – bei Zwillinge habe ich einiges zu diesem Thema erzählt -, und zog dann als gefeierter Sieger in Theben ein, wo er, ohne es zu wissen, seine Mutter Iokaste heiratete. Nachdem er einige Jahre als guter und gerechter König geherrscht hatte, kam die Pest in die Stadt, und immer mehr Menschen fielen ihr zum Opfer. Als letzte Hoffnung wurde der blinde Seher Teiresias (wir kennen ihn aus dem Waage-Kapitel) gefragt, was die Ursache dieser Seuche sei, und er sagte: »Unter euch wohnt ein Vatermörder.« Da wollte Ödipus den Teiresias zwingen, den Namen des Vatermörders preiszugeben, und Teiresias sagte: »Bitte zwing mich nicht, König, den Namen zu verraten.« Ödipus sagte: »Wenn du nicht sagst, wer es ist, schlage ich dir den Kopf ab.« Da sagte Teiresias: »Nun gut, du bist es, König.« Ödipus konnte es immer noch nicht glauben, aber schließlich machte er den Hirten ausfindig, der ihn damals ins Gebirge gebracht hatte, und mit dessen Hilfe kam die Wahrheit endgültig ans Tageslicht. Ödipus war verzweifelt und wollte sich in sein Schwert stürzen, aber die Leute, die ihn als König geliebt und geachtet hatten, hinderten ihn daran, denn sie hatten Mitleid mit ihm. Der Einzige, der kein Mitleid mit sich selbst hatte,
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