Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)
Löwen geben ihren Kinder den eigenen Vornamen. Sie sehen die Kinder als Verlängerung ihres eigenen Wesens, als ihre Geschöpfe – was zugleich stimmt und nicht stimmt.
Eine kleine Geschichte über diese Selbstzentriertheit: Ein Expeditionsteam in Südamerika kommt in ein einsames Bergdorf und wird dort von einem alten Mann sehr freundlich aufgenommen und bewirtet. Er erzählt, dass er sich, seit er denken kann, jeden Morgen übergeben muss. Als die Leute von der Expedition fragen: »Ja, warum gehst du denn nicht zum Arzt? Lass dich behandeln!«, erwidert er ganz erstaunt: »Ja wieso, macht das denn nicht jeder?«
Das ist ein Beispiel für die Tendenz, von sich auf andere zu schließen, und da bedarf Löwe des Gegenpols Wassermann. Er muss sich ja nicht gleich in einen Wassermann verwandeln, aber er sollte Respekt vor den Welten anderer Menschen bekommen, sie genauso achten wie sich selbst. »Ich bin okay, du bist okay.«
Ein guter Löwe-König oder Löwe-Vater wird diese Botschaft auch seinen Kindern vermitteln oder den Schutzbefohlenen in seinem Königreich: »Du bist in Ordnung, du hast alles, was du brauchst.« Dann kann der schöne Satz »Wenn Gott dich anders gewollt hätte, hätte er dich anders gemacht« nicht nur für die eigene Person gelten, sondern auch für alle anderen.
Ein Kind mit Löwe-Sonne hat große Sehnsucht nach solch einem positiven, herzensguten Vater, der an es glaubt, ihm diese selbstverständliche Anerkennung gibt, eine Anerkennung dafür, wie es ist. Aus der Löwe-Perspektive will jemand, der einen kritisiert oder nicht in Ordnung findet, klüger sein als Gott.
Der Königssohn, der sich vor nichts fürchtet
Dieses Grimmsche Märchen enthält mehrere klassische Löwe-Motive, nicht nur weil ein Löwe darin eine wichtige Rolle spielt. Obwohl in diesem Märchen ein männlicher Held die Hauptfigur ist, kann man es auch sehr gut auf die Entwicklung von weiblichen Löwen anwenden. Über dieses Märchen hat der Psychoanalytiker Helmut Remmler ein Buch mit dem gleichnamigen Titel geschrieben (der Untertitel heißt »Mit vierzig fängt das Leben an«). Er beschreibt dort anhand dieses Grimmschen Märchens die Krise der Lebensmitte. Ich werde hier versuchen, die Motive des Märchens nach dem Löwe-Prinzip zu interpretieren.
Dem Königssohn in diesem Märchen gefällt es nicht mehr in seines Vaters Schloss, und so zieht er in die weite Welt. Als er zum Haus eines Riesen kommt, kegelt er völlig respektlos mit den Riesenkegeln, die er dort findet. Von dem Lärm wacht der Riese auf und stellt den Königssohn zur Rede: »Würmchen, was kegelst du mit meinen Kegeln? Wer hat dir die Stärke dazu gegeben?« Doch der Königssohn sagt nur: »O du Klotz, du meinst wohl, du hättest allein starke Arme? Ich kann alles, wozu ich Lust habe.« Da wird der Riese nachdenklich und sagt: »Menschenkind, wenn du von der Art bist, so geh und hol mir einen Apfel vom Baum des Lebens, aber ich sage dir gleich, das schaffst du nie, das hat noch keiner geschafft. Erstens wird der Garten, in dem der Baum steht, von wilden Tieren bewacht, aber selbst, wenn du an denen vorbeikommst, müsstest du deine Hand durch einen Ring stecken, um an den Apfel zu kommen, und das hat auch noch keiner geschafft.« Der Königssohn sagt siegesgewiss: »Mir soll’s schon glücken«, und er schafft es tatsächlich. Er holt den Apfel – den Ring, der ihm Zauberkraft verleiht, hat er gleich mitbekommen – und einen Löwen als Begleiter, der ihm folgt. Der Riese hatte den Apfel für seine Braut bestellt und gibt ihn ihr, aber die ist klug und sagt: »Wo der Apfel ist, muss auch der Ring sein, sonst glaube ich dir nicht, dass du es warst, der den Apfel geholt hat.« Da will der Riese dem Königssohn den Ring abnehmen, aber der gibt ihn nicht her, und sie kämpfen darum. Weil der Königssohn durch den Ring Zauberkräfte bekommen hat, kann der Riese ihn nicht besiegen, deshalb sinnt er auf eine List und sagt: »Komm, lass uns eine kleine Pause machen, nachher kämpfen wir weiter, aber lass uns erst unsere Kleider ablegen und im Fluss baden.« Und dann steht da so schön: »Der Königssohn, der von Falschheit nichts wusste, ging mit ihm zu dem Wasser, streifte mit seinen Kleidern auch den Ring vom Arm und sprang in den Fluss.« Darauf hat der Riese nur gewartet, er schnappt sich den Ring, aber der Löwe hat aufgepasst und reißt dem Riesen den Ring wieder aus der Hand. Da versteckt sich der Riese hinter einem Baum, und als der Königssohn aus
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