Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)
dem Fluss zurückkommt, springt er hervor und sticht ihm die Augen aus. Dann führt er ihn auf einen hohen Berg und will ihn in den Abgrund stürzen, aber da kommt dem Königssohn wieder der Löwe zu Hilfe und stürzt stattdessen den Riesen in den Abgrund. Der Königssohn ist gerettet, aber blind. Erst durch eine Wunderquelle erlangt er sein Augenlicht wieder; in dem Märchen heißt es: »Seine Augen waren so hell und rein, wie sie nie gewesen waren.«
Anders ausgedrückt: Nach diesem Drama hat er eine neue Sichtweise bekommen. Schließlich begegnet er einer wunderschönen, aber ganz schwarzen, verwunschenen Prinzessin, die ihn fragt: »Willst du mich erlösen?« Und er sagt: »Mit Gottes Hilfe will ich es versuchen.« Er muss drei Spuknächte in einem Schloss verbringen, wo er von Dämonen und Teufeln bis aufs Blut gequält wird und an jedem Morgen mehr tot als lebendig wieder aufwacht. Er darf keinen Laut über die Lippen bringen, und da er das durchhält, wird die Prinzessin von Tag zu Tag weißer. Am dritten Tag ist sie ganz erlöst, und die Hochzeit kann gefeiert werden.
Zunächst ist ein Löwe-Motiv die Haltung des Königssohns, der auf die Welt zugeht nach dem Motto »Ich kann alles, wozu ich Lust habe« (das erinnert an: »Ich kann das ganze Universum bewegen, wie es mir passt: Wenn ich hochspringe, geht die Welt runter«), jenem grandiosen Siegerkonzept. Das mag für die erste Lebenshälfte absolut stimmig sein. In der ersten Lebenshälfte mit dem Satz in die Welt zu gehen: »Ich schaffe, was ich mir vorgenommen habe, alles ist möglich« ist wunderbar für einen jugendlichen Helden oder eine jugendliche Heldin. Das sind Menschen, die Großes bewegen können, die sich in der Welt bemerkbar machen, die starke Persönlichkeiten sind. Wenn man allerdings in der zweiten Lebenshälfte, die etwa zwischen 35 und 45 Jahren beginnt, immer noch mit diesem Motto durch die Welt läuft, dann ist das meistens peinlich. Diese Menschen können nicht altern, sich mit der Vergänglichkeit, mit ihrer Sterblichkeit nicht wirklich auseinandersetzen. Diese ist jedoch ein kosmisches Gesetz, und insofern müssen solche naiven Siegertypen bisweilen durch eine Dunkelphase gehen, genau wie der Königssohn, der geblendet wird.
Das Augenlicht zu verlieren ist in vielen Märchen und Mythen ein wichtiges Motiv. Es bedeutet, sich der unbewussten dunklen Seite des eigenen Wesens zuzuwenden, und es heißt auch, Kontrolle zu verlieren, ohnmächtig zu werden. Das Augenlicht zu verlieren kann um die Lebensmitte herum verschiedene Gesichter haben. Man kann beruflich in eine Sackgasse geraten, man kann krank werden und erkennen, dass die eigene Energie nicht unerschöpflich ist, man kann verlassen werden und die eigene Ohnmacht erfahren: Ich kann den anderen oder die anderen nicht zwingen, mich zu lieben. Nach dieser Dunkelphase, dieser Ohnmachtserfahrung kann man entweder ein gekränkter Löwe werden, der sich vom Schicksal gedemütigt fühlt, und in die Verbitterung gehen oder eine Wandlung durchmachen wie der Königssohn. Als er wieder sehend wird, sagt er zu der Prinzessin nicht mehr wie früher: »Natürlich erlöse ich dich, ich kann alles, wozu ich Lust habe«, sondern er sagt: »Mit Gottes Hilfe will ich es versuchen.« Das heißt, durch die Todesbegegnung, die Dunkelphase, die heilsame Depression hat er Anschluss an die göttliche Kraft in sich gefunden. Diese Kraft könnte man mit einem Ausdruck von C. G. Jung das »Selbst« nennen: die transpersonale, göttliche Kraft in uns. Durch die Stirb-und-werde-Erfahrung hat er seinen Eigenwillen, sein naives Grandiositäts-und Helden-Konzept überwunden.
Meiner Erfahrung nach lässt dieses Märchen sich in vielen Lebensläufen von Heldentypen, natürlich vor allem Löwe-betonten Menschen, insbesondere Männern, wiederfinden. Manche werden zu beleidigten, gekränkten Königen, aber manche machen auch eine intensive Entwicklung durch und finden Zugang zu einer inneren Stimme. Das ist letztendlich das tiefere Thema von Löwe und von Sonne: die göttliche Führung, das göttliche Licht. Gold, das Metall, das der Sonne und dem Löwen zugeordnet wird, heißt aurum , und das kommt von aur , dem Urlicht. Oskar Adler nennt den Löwen den »ins Urlicht Getauchten«. Aber um zum Urlicht, zu dieser göttlichen inneren Führung zu kommen, muss man sich erst von falschem Schein, von der Oberflächlichkeit des naiven Größenwahns frei machen.
Interessant für unsere Interpretation ist auch die
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