Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)
Frau, sexuelles Wesen zu sein. Sobald sie dazu bereit ist, kann Alfonso den Kampf gegen die Yara gewinnen.
Ich muss ehrlicherweise zugeben, dass ich zur Julia-Fraktion gehöre, aber nur deshalb, weil Julia die Muschel besungen hat. Hätte sie das nicht getan, hätte sie nicht die dunkle Göttin in sich und in die Beziehung zu Alfonso integriert, wäre sie auch mir zu langweilig gewesen.
Wichtig ist nicht, wer Recht hat, sondern dass diese Polarität existiert, und dieses Märchen zeigt, wie gefährlich Einseitigkeiten sind und wie Mann und Frau innerhalb einer Paarbeziehung den fehlenden Yara-Schatten integrieren können. Einseitigkeit Nummer eins wäre, eine Beziehung nur auf der bürgerlichen Kaffeekränzchen-Ebene zu führen. Einseitigkeit Nummer zwei: das absolute Gegenprogramm, nur Sumpf, Verfallenheit, Sexbesessenheit. Wer Sex und Leidenschaft vermeidet, wird innerlich sexbesessen. Man braucht sich bloß die Träume der so genannten »heiligen« guten Menschen näher anzusehen, dann wird einem klar, dass das Verdrängte sich nur einen anderen Aufenthaltsort sucht. Das Unbewusste hat auf dieser Ebene immer kompensatorischen Charakter.
Im Sinne des Waage-Prinzips ist es wichtig, hier eine Versöhnung zu finden. Eine Frau muss die helle und die dunkle Seite des Weiblichen in sich gleichermaßen ehren und versöhnen, wenn sie vollständig sein will. Auf diese Weise vermeidet sie die Gefahr, in den Gegenpol zu kippen, auch was Beziehungen betrifft. Solange Licht und Schatten in einer Beziehung mitleben dürfen, ist diese lebendig und vollständig; je mehr Verdrängung und Abspaltung stattfinden, wie in der Anfangsbeziehung von Alfonso und Julia, desto bedrohlicher tickt die Zeitbombe. In unserem Märchen wird diese Zeitbombe von der Figur der Yara verkörpert.
Mir ist der Begriff der Balance hier sehr wichtig. Angela Seifert, eine gute Freundin und Wegbegleiterin, hat ein Buch geschrieben, das heißt Jetzt pack ich’s an , ein sehr Widder-betonter Titel. Die Autorin ist tatsächlich Widder, aber sie schreibt auch viel über den Gegenpol Waage, vor allem unter dem Aspekt: Wie schaffe ich es, mich nicht an einem Pol festzubeißen, sondern zwischen diesen Welten hin und her zu schwingen, damit ich nicht einseitig werde und das Leben mich nicht durch Schicksalsschläge korrigieren muss. Unter anderem bezieht sie sich auf das Beispiel Buddhas, in dessen Lehre der mittlere Weg eine große Rolle spielt. Buddha hatte eine sorglose, wohl behütete Kindheit in einem reichen Elternhaus, und als er später das Leben mit dem ganzen Leid, Elend und Tod kennen lernte, wechselte er zum Gegenpol über und führte jahrelang um seiner eigenen Befreiung willen das strenge Leben eines Asketen. Dieser Gegenpol hat ihn irgendwann so sehr überfordert, dass er völlig entkräftet einsehen musste, dass auch dieser Weg nicht der richtige war. Er hatte sich sozusagen genauso an die Askese gebunden, wie er vorher an Wohlstand und Glück in seiner Familie gebunden gewesen war. Die Idee vom mittleren Weg ist in meinen Augen ein sehr schönes Bild, um die tiefere Weisheit von Waage darzustellen, egal, ob es nun die Mitte zwischen den Hell-Dunkel-Motiven, zwischen Yara und Julia oder zwischen anderen komplementären Welten ist. Der goldene Mittelweg ist eine Weisheit, die zu Waage gehört, und gerade in Richtung zweiter Lebenshälfte kann er helfen, zur inneren Heiterkeit und Gelassenheit des Weisen zu finden.
Dermot mit dem Liebesfleck
In diesem schottischen Märchen werden vier junge Helden, vier Jäger, von einem Unwetter überrascht, und es verschlägt sie in eine Gegend, in die sie bisher nie gekommen sind. In einer uralten Hütte bitten sie um ein Nachtlager. Die Hütte gehört einem weisen alten Mann, der eine wunderschöne Tochter hat. Da die Hütte sehr klein ist, müssen die vier Helden ihr Strohlager in dem Raum aufschlagen, in dem auch die junge Frau schläft. Verständlicherweise tun sie sich mit dem Einschlafen schwer, und einer nach dem anderen versucht sein Glück bei der Schönen. Der Erste versucht es nach dem Widder-Prinzip (das zeigt sich schon daran, dass er es zuerst probiert). Er geht einfach zu ihr hin und sagt: »Der Schlaf bleibt mir beharrlich fern, ich will, dass du mein wirst.« Sie antwortet nur: »Leg dich wieder hin, ich habe dir schon einmal gehört, nie wieder kann es sein.« Da legt er sich zähneknirschend wieder hin. Der Zweite ist eher ein schüchterner Krebs. Er tritt an ihr Bett, aber er hat noch gar
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