Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)
einmal mit Gewalt Platz verschafft. Der Rat, den uns diese Geschichte gibt, ist deshalb auch, uns rechtzeitig auf unseren Gegenpol zu besinnen, damit dieser nicht zum Monster werden kann. Die Polarität in uns zu begreifen, der Segelflieger zu sein, der sich von den gegensätzlichen Strömungen tragen lassen kann und sie immer wieder ausbalanciert, das ist ein positiver Umgang mit den Extremen, die wir in uns tragen.
Das alte, müde Pferd, das zurückkommt, ist ein sehr schönes Bild für jemanden, der lange Zeit souverän und einsam gelebt hat. Es kann wunderschön sein, so eine Phase der Selbstfindung zu erleben, aber auf Dauer ist es ermüdend. Es kann zu einer Einsamkeit führen, deren Last immer schwerer zu tragen ist, und dann geht man irgendwann wie dieses alte müde Pferd auf den Tempel zu dem eigenen inneren Weiblichen oder auf eine Beziehung zu und sagt: »Ich will sterben.« Das heißt, dieses Lebenskonzept, dieser einsame Cowboy will verabschiedet werden. Ich habe in meiner Gruppenarbeit viele Männer erlebt, die sich mit diesem alten müden Pferd identifiziert haben. Mann sein, im Sinne des überlieferten Männerbildes, nur autonom, stark, unabhängig sein, macht auf die Dauer müde und traurig.
Auch das Mädchen symbolisiert sehr schön das Wandern zwischen den Welten. Wenn man hier nicht nur ein persönliches Schicksal sehen will, sondern einen kollektiven Aspekt, dann ist dieses arme, verachtete Mädchen am Anfang wie die vom Patriarchat verachtete Weiblichkeit: Unsere männlichen Gottesbilder und Wertvorstellungen sind im Tempel, das Weibliche ist draußen. Es geht also darum, das Weibliche wieder in den Tempel zu lassen. Das muss nicht ein neues Matriarchat bedeuten, sondern einfach, dass das Weibliche wieder geachtet werden soll. Es muss zu neuem Ansehen kommen. Die Art von Reichtum, die in diesem Tempel herrscht, ist ja nicht unbedingt das Wahre. Der Schafherde der Gläubigen, die immer vor dem Tempel steht, kann man offensichtlich alles vorsetzen! Es braucht bloß jemand in dem Tempel zu sein, weise um sich zu schauen und zu sagen: »Das wissen die Götter«, schon fallen sie auf die Knie und rufen: »Sie ist eine Göttin, sie weiß alles.« In keinem anderen Märchen wird die Dummheit der Gläubigen so schön dargestellt wie in dieser Geschichte. Den Tempel zu verlassen heißt auch, der Dummheit und der Verführbarkeit durch Beifall zu entgehen. Es ist herrlich, geachtet zu werden, und unser Ego ist sicherlich begeistert, wenn wir zwischendurch bewundert werden. Aber auf die Dauer macht es einsam, da kann die Menschenmenge draußen noch so groß sein.
Noch ein letzter Aspekt, der zu dieser Geschichte gehört. Ich habe bereits davon gesprochen, dass das Ungleichgewicht von Sonnen-und Mond-Welt, von väterlicher und mütterlicher, männlicher und weiblicher Welt in unserer Zeit ein großes Problem ist und dass es auch die Aufgabe des neuen Zeitalters ist, eine neue Gleichwertigkeit des männlichen und weiblichen Aspektes von Gott herzustellen. Die vernachlässigte Weiblichkeit, das verarmte kleine Mädchen, das Aschenputtel, das in so vielen Märchen auftaucht, soll rehabilitiert werden. Aber dafür gibt es im Märchen zwei ganz unterschiedliche Wege. Sehr vereinfacht gesagt ist der eine der Weg der Rache und der andere – der hier eingeschlagen wird – der Weg der gemeinsamen Sehnsucht und auch der Trauer. Wenn das Männliche und das Weibliche so weit voneinander entfernt sind wie in den letzten Jahrtausenden, so stark ins Ungleichgewicht geraten, dann taucht in der Kollektivpsyche die Rachegöttin auf. Die unterdrückte, vernachlässigte Weiblichkeit kann im Märchen zur bösen Hexe, zur bösen Stiefmutter werden, und in der MärchenArbeit habe ich oft erlebt, wie bei Frauen diese Rachegöttin sehr stark wird. Sie kann auch lustvoll sein, denn Rache ist vielleicht kein edles Gefühl, aber ein sehr lebendiges, ein Antidepressivum gewissermaßen. In diesem Märchen ist die Vision jedoch, dass Männlich und Weiblich wieder zusammenfinden durch die gemeinsame Trauer um die verlorene Einheit. Auf eine Beziehung übertragen kann das heißen: Wenn Beziehungen schwierig sind, wenn immer wieder Trennung und Missverständnisse auftauchen, dann gibt es die Möglichkeit, den Weg der Rache zu gehen: Ich zahl’s dir heim, du hast mir wehgetan, und das kriegst du zurück. Man kann sich aber auch, wie in diesem Märchen, umarmen und gemeinsam weinen, gemeinsam trauern darum, dass so viel Entfernung da
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