Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)
stärker der Gesang von Julia in Alfonsos Ohr wird, desto heller und klarer wird es wieder in ihm. Das Märchen endet damit, dass Alfonso am Ufer des dunklen Sees steht. Er hört den Gesang der Nachtvögel, er ist innerlich wieder ganz klar geworden, und der Spuk, der Zauber der Yara, ist vorbei.
Ich habe mit diesem Märchen in vielen Selbsterfahrungsgruppen gearbeitet und habe erlebt, dass es jede Gruppe spaltet. Es gibt immer eine Yara-Fraktion und eine Julia-Fraktion, unter Frauen wie unter Männern. Die Yara-Fraktion vertritt folgenden Standpunkt: Dieser Feigling, dieser brave Schwiegersohntyp, hätte er sich doch nur wirklich auf ein Abenteuer mit der dunklen Göttin eingelassen, wäre er doch nur zu Yara in den See gegangen und hätte die langweilige Julia da mit ihrem bürgerlichen Elternhaus aufgegeben! Vielleicht wäre er dann im positiven Sinne verwandelt und verzaubert aus der Geschichte hervorgegangen. Die Yara-Fraktion weist auch gern darauf hin, dass Brasilien teilweise sehr katholisch ist, dass hier das alte Maria-und-Hexe-Problem wieder auftaucht, denn Yara und Julia können durchaus als Hexe und Maria verstanden werden. Der Kampf zwischen Yara und Julia wäre dann ein Kampf zwischen den beiden Aspekten des großen Weiblichen, dunkle Göttin gegen Himmelskönigin, Maria gegen Hexe, oder wie man es nennen mag. Die Julia-Fraktion dagegen vertritt nicht zu Unrecht die Ansicht, dass es ja nicht unbedingt eine wünschenswerte Vorstellung ist, von der Yara unter Wasser gezogen zu werden, ins Reich des Unbewussten, wo man den Verstand verliert. So wichtig es ist, den Verstand manchmal zu verlieren, um Leidenschaft zu erfahren, um Wandlungserfahrungen zu machen, so wenig sinnvoll ist es, ein Leben lang unter Wasser zu leben und dieser Göttin zu dienen. Jung würde für diesen Vorgang des Verfallens das Wort Anima-Besessenheit gebrauchen. Das entspricht dem, was dem Professor Unrat im Film Der Blaue Engel passiert. Ein ganz vernunft-und ratiobetonter Professor verfällt einer Tänzerin (die von Marlene Dietrich gespielt wird). Das ist eine ähnliche Geschichte über einen Verstandestypen, einen Nordländer, der einer Yara begegnet. In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass Alfonso aus dem Norden kommt und der Norden von der Symbolik her immer mit der Kühle des Verstandes zu tun hat. Gerade Männer, die etwas betont Nordisches an sich haben (es gibt sie auch im Süden!), sind oft von der Yara-Energie fasziniert und haben gleichzeitig große Angst davor, dabei ihren Verstand zu verlieren.
Welchen Standpunkt man auch bevorzugen mag, die Frage lautet sicherlich nicht: Was ist richtig und was falsch. Ich habe diese Geschichte auch deshalb gewählt, weil Waage mit dem Motiv der Balance, mit dem rechten Maß zu tun hat, mit der Versöhnung der Gegensätze. Gerade weil das große Weibliche in unserer Kultur so lange in Maria und Hexe gespalten war, ist es für Frauen, aber auch für Männer schwer geworden, beides in eine Liebesbeziehung zu integrieren. Und das ist mit ein Grund für die vielen Dreiecksdramen, Beziehungsdramen wie hier bei Alfonso, Julia und Yara. Zugleich ist es auch ein wunderbarer Ratschlag, was man tun kann, wenn man zum Beispiel in der Situation von Julia ist. Am Anfang ist sie nur Licht, die gute Tochter, die mit den Eltern auf der Terrasse sitzt und mit ihrem Alfonso Händchen hält. Alfonsos Verdienst ist es zunächst, die marsische Kraft, die in Gestalt des tollwütigen Hundes drohte, von Julia und ihrer Familie fernzuhalten, und zum Lohn darf er auf der Terrasse sitzen. Da passiert nun wirklich nichts, was mit Leidenschaft zu tun hätte, alles ist unglaublich weiß, heilig und gezähmt: Alfonso hat mit dem Hund auch seine eigene wilde Männlichkeit vertrieben. Wenn Beziehungen so brav und heilig ablaufen, wenn zu wenig Intensität da ist und zu viel Konversation, ist es unvermeidlich, dass im Hintergrund der Psyche eines solchen Paares die Yara-Thematik existiert. Ob es den Mann oder die Frau in die dunkle Waldwelt hinauszieht, ist egal. Julia wandelt sich insofern, als sie selbst ein Stück zur Yara wird, und das tut sie, indem sie die Muschel besingt, indem sie selbst ihre Zauberkräfte, ihre Hexenkräfte entwickelt. Die Muschel ist ja ein urweibliches Symbol, und die Muschel für Alfonso zu besingen heißt sicherlich auch, sich ihm als Frau zu erkennen zu geben, als Weib. Sie signalisiert ihm dadurch ihre Bereitschaft, für ihn auch ein Stück dunkle Göttin, leidenschaftliche
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