Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)
ist, dass die Begegnung nicht mehr möglich ist. Sicherlich hat jeder dieser beiden Wege seine Berechtigung und seinen passenden Zeitpunkt, aber wenn die Vereinigung der Gegensätze wie in diesem chinesischen Märchen erfolgen könnte, auch als kollektive Versöhnung, dann wäre das sicherlich die schönere Variante.
Der Gesang der Yara
Es gibt noch ein Märchen, das für mein Gefühl sehr viele Waage-Motive beinhaltet. Es heißt Der Gesang der Yara und kommt aus Brasilien. Am Anfang der Geschichte ist Alfonso, ein junger Mann aus dem Norden, unterwegs in einer Landschaft im Süden. Dort begegnet er einer jungen Tänzerin, in die er sich sehr verliebt. Ihr Name ist Julia. Zunächst verliert er sie wieder aus den Augen, aber eines Abends trifft er sie zufällig auf der Dorfstraße und rettet sie vor einem tollwütigen Hund. Zum Dank dafür nimmt sie ihn mit nach Hause, und dort sitzt er dann mit ihren Eltern auf der Terrasse und trinkt Kaffee. Das wiederholt sich so einige Male; es ist wirklich eine Idylle. Aber eines Abends fragt Julia Alfonso: »Sag mal, wenn du mein Elternhaus verlässt, gehst du dann eigentlich direkt nach Hause oder gehst du noch woanders hin?« Und er sagt: »Also, wenn mir heiß ist, gehe ich in einen der schönen Wälder hier in der Gegend. Dort ist ein kleiner See, in dem ich manchmal bade, um mich abzukühlen.« Julia wird schreckensbleich und sagt: »Bitte versprich mir, dass du das nie wieder tust. Du darfst nie wieder in diesen Wald gehen, denn dort wohnt Yara, die Wasserfrau. Man sagt, dass sie alle jungen Männer zu sich in die Tiefe lockt, vor allem am Vorabend ihrer Hochzeit. Wer ihr einmal verfallen ist, der muss ihr ein ganzes Leben lang unter Wasser dienen.« Alfonso nimmt Julia erst gar nicht ernst, aber sie ist so verzweifelt und weint und bittet ihn so inständig, dass er es schließlich verspricht.
Wie zu erwarten kann er sein Versprechen nicht halten, der Sog des dunklen Waldes und der geheimnisvollen Wasserfrau hat ihn schon fest im Griff, und irgendwann kommt er wieder an den See und hat seine erste Begegnung mit Yara. Sie zeigt sich und stimmt ihren betörenden Gesang an. Da bekommt er Panik, nimmt die Beine in die Hand und rennt so schnell er kann fort von ihr. Aber von da an ist er verändert, fieberkrank, wie besessen, und Julia merkt das sofort. Sie ist eine äußerst kluge Frau und unternimmt Folgendes. Sie besingt eine Muschel mit ihrer Melodie, gibt sie Alfonso und sagt: »Ich weiß genau, du wirst dein Versprechen nicht halten, du wirst wieder zu Yara gehen. Ich merke ganz genau, dass du ihr schon verfallen bist. Aber wenn du zu ihr gehst, wenn es schon nicht zu ändern ist, dann nimm diese Muschel mit und trage sie bei dir, vielleicht ist mein Zauber stärker als der ihre.«
Alfonso nimmt die Muschel an sich, und dann kommt es zu der entscheidenden Szene. Es ist eine Neumondnacht, Alfonso ist wieder in den dunklen Wald gegangen und steht jetzt am Ufer des dunklen schwarzen Sees. Er hat sich vorher einen Ast abgebrochen, den er als Waffe in der Hand hält. Da kommt schließlich mitten auf dem dunklen See ein Lichtschimmer zum Vorschein, und dem Lichtschimmer entsteigt Yara, die wunderschöne Wasserfrau, ganz in weiße Kleider gehüllt. Sie geht über das Wasser auf Alfonso zu und stimmt einen betörenden Gesang an. Alfonso muss sich sehr zusammenreißen, um nicht die Kontrolle zu verlieren, aber als sie ganz nahe ist, schafft er es, den Arm mit dem Ast zu heben, und er ist bereit, sie zu schlagen. In dem Moment wird Yara unsicher und fängt an zu zögern, aber da macht Alfonso einen Fehler. Er verlässt das Ufer und geht auf sie zu; er gibt sozusagen seinen Standpunkt auf, verliert den Erdboden unter den Füßen und gerät ins Wasser. Und sobald er mit den Füßen im Wasser ist, schwinden ihm die Sinne, seine Kraft verlässt ihn, der Knüppel fällt ihm aus der Hand. Er wird völlig kraftlos, und der Gesang der Yara wird immer stärker und mächtiger in seinen Ohren. Aber als ihm die Hand kraftlos herunterfällt, rutscht sie auf die Tasche, in der er die Muschel von Julia trägt, und mit letzter Kraft greift er nach der Muschel und hält sie sich ans Ohr. Und jetzt beginnt ein Zaubererwettstreit, könnte man sagen, oder besser ein Hexenwettstreit: Der Gesang der Julia und der Gesang der Yara beginnen in Alfonsos Ohren miteinander zu kämpfen. Ganz allmählich setzt sich die Stimme Julias durch, der Gesang der Yara wird immer schwächer und kraftloser, und je
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