Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)
fürchtet schon, verhungern zu müssen, doch da sieht er auf einmal ein Licht. Er folgt ihm und kommt zu einem Schloss, in dem ihn eine wunderschöne Prinzessin aufnimmt. Es ist ihm allerdings nicht erlaubt, jemals sein Zimmer zu verlassen, er darf nicht einmal aus dem Fenster sehen, wenn im Schloss gefeiert wird. Dreimal widersetzt er sich diesem Gebot, denn er kann sich gar nicht sattsehen am Prunk der Tanzfeste. Jedesmal, wenn er das Gebot übertritt, wird die Prinzessin trauriger und ärgerlicher, und schließlich sagt sie: »Das Frühjahr naht, deine Gefährten werden bald wieder auf die Insel kommen, und du wirst mit ihnen ans Festland zurückfahren. Ich bitte dich nur um eines: Wenn du mir ein wenig dankbar bist für das, was ich für dich getan habe, dann bekenne dich zu dem Kind, das dir ans Festland gesandt werden wird. Der König lässt mich töten, wenn ich dem Kind keinen Vater geben kann.« Der Knecht verspricht es hoch und heilig. Als seine Gefährten, die ihn tot glaubten, ihn so gesund und munter wiedersehen, denken sie zunächst, er sei ein Wiedergänger, doch dann nehmen sie ihn mit zurück ans Festland. Später, im Sommer, kommt es zur entscheidenden Szene. Es ist Sonntag, in der Kirche wird der Gottesdienst abgehalten, und auch der Knecht nimmt daran teil. Da steht mit einem Mal neben dem Altar eine Wiege mit einem kleinen Kind und einer schönen Frauenhand am Rand der Wiege. Alle sind verwundert, doch der Pfarrer, der ein kluger Mann ist, sagt: »Es wird wohl das Kind des Knechtes sein, man wird es ihm von Selö herübergebracht haben.« Der Knecht streitet es ab. »Nein, ich habe damit nichts zu tun.« Dreimal wird ihm die Frage gestellt, wie bei Petrus, und dreimal leugnet er und schwört hoch und heilig, nicht der Vater des Kindes zu sein. Als der Pfarrer es trotzdem auf seinen Namen taufen will, verbietet der Knecht es ihm. Da verschwindet die Wiege wieder, und das Weinen des Kindes zieht in Richtung Meer. Die Leute folgen diesem Klagen und Jammern, bis es schließlich in der Weite des Meeres verklingt. Der Knecht verfällt später in Schwermut und beichtet dem Pfarrer: »Es war mein Kind aus der Zeit, in der ich bei einem König und seiner Tochter gelebt habe, und ich habe mein Leben lang bereut, mich nicht dazu bekannt zu haben.«
Diese Thematik kann man zunächst einmal ganz wörtlich nehmen. Wie viele Kinder werden geboren, ohne dass der Vater oder auch die Mutter sich zu ihm bekennen, vielleicht weil sie das Ergebnis eines Seitensprungs sind oder Kinder katholischer Priester. Die Knechtschaft, die die kirchliche Moral ihren Anhängern aufzwingt, enthält sehr viel lebensfeindliches Potenzial. Man kann dieses Kind aber auch im übertragenen Sinne sehen: als einen Impuls, der in uns geboren werden möchte, damit wir uns im Sinne unseres inneren Gesetzes entwickeln. Diese Entwicklung heißt oft, mit den geltenden Normen, den Zeigefingern, den moralischen Gesetzen des Umfeldes in Konflikt zu geraten. Dann stellt sich irgendwann unweigerlich die Frage: Bekennst du dich zu dir selbst oder nicht? Stehst du zu diesem Entwicklungsimpuls, den du für dich gefunden hast, oder verleugnest du ihn wie Petrus, ehe der Hahn zweimal krähte? Bist du bereit, ein Glaubensbekenntnis abzulegen, das aus deiner inneren Haltung, von deinem inneren Guru kommt, oder wirst du aus Angst vor den äußeren Priestern und Richtern klein beigeben, dein inneres Kind, deine eigene Entwicklung verleugnen und irgendwann schwermütig werden und als alter Mensch zurückdenken und sagen: »Ich hätte es damals tun sollen, warum habe ich es nicht gewagt, warum habe ich mich der geltenden Moral gebeugt und mein eigenes inneres Gesetz dabei verleugnet?«
Das Bekenntnis zu dem Kind, das da geboren wird, kann im Leben des Einzelnen ganz unterschiedliche Gesichter haben. Ein reifer Schütze hat den Mut, sich in aller Öffentlichkeit, mitten in der Kirche, hinzustellen und zu sagen: »Es ist mein Kind, ich bekenne mich zu diesem Kind, ich bekenne mich zu mir selbst, was auch immer das bedeuten mag.« Damit verabschiedet er sich aus der moralischen Knechtschaft der äußeren Zeigefinger. Hier kann ein Satz von Dostojewski helfen: »Ein Recht auf Schande hat jeder Mensch.« Hat man allerdings nicht den Mut, sich aus dieser Knechtschaft zu befreien, die Angst vor dem Schäm-dich zu überwinden, dann wird der kritische Blick der anderen zum Tod der eigenen Möglichkeiten.
Eine Schütze-betonte Frau erzählte mir, wie sie durch ein
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