Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen (German Edition)
Erlebnis, das sie in China auf einer Reise hatte, in eine große persönliche Krise geraten war. Sie kam in ein kleines Dorf, wo ein junger Mann, der irgendetwas angestellt hatte, öffentlich an den Pranger gestellt und vom ganzen Dorf beschimpft und bespuckt wurde. Wie man hier mit der Würde eines Menschen umging, dieses Bloßstellen, Demütigen in aller Öffentlichkeit, erschütterte sie zutiefst und rief Erinnerungen an Gerichtshofsituationen in ihrer eigenen Familie wieder wach. Die Schmerzen, die so etwas bedeuten kann, sind für einen Schütze-betonten Menschen wesentlich schlimmer als körperliche Schmerzen. Wer so etwas in irgendeiner Form als Kind erlebt hat, wird später alles daran setzen, dass es nie wieder passiert, zum Beispiel dadurch, dass er scheinbar perfekt und unangreifbar wird. Das kostet sehr viel Kraft. Auf Dauer sollte man sich lieber zu allem bekennen, was man ist, auch zur Unvollkommenheit, zum Erdenrest, der zu tragen peinlich ist, wie Goethe sagte. Das Bekenntnis zum Pferdeleib, das ist die hohe Schule des Schütze-Daseins, und es wird uns allen nicht leicht gemacht, denn uns wurde beigebracht, den Pfeil nach oben mehr zu schätzen als den Pferdeleib des Kentauren.
Der getreue Johannes
In diesem Märchen finden wir ein weiteres wichtiges Schütze-Motiv. Ein alter König, der im Sterben liegt, gibt seinem Sohn letzte Anweisungen mit auf den Weg: Er darf alle Kammern des Schlosses öffnen bis auf eine, denn was er dort sehen würde, könnte ihm sehr gefährlich werden. Das ist natürlich ein typisches Gebot, das aufgestellt wird, um übertreten zu werden. Der Königssohn macht also die verbotene Tür auf und verliebt sich sogleich in das Bildnis, das er dort findet, das Bildnis der Prinzessin vom goldenen Dache.
Der alte König hat dem Sohn auch einen Erzieher, Diener und Begleiter hinterlassen, nämlich den getreuen Johannes. Mit dessen Hilfe erringt er die Prinzessin, aber der getreue Johannes weiß auch, welche Gefahren den Königssohn noch erwarten. Er versteht die Sprache der Tiere, der drei schwarzen Raben, und weiß deshalb auch, dass er sie dem Königssohn nicht verraten darf, andernfalls würde er zu Stein. Er befolgt die Ratschläge der Raben: Er tötet den Hengst, der sonst den Königssohn in die Lüfte entführt hätte, und verbrennt das vergiftete Brautkleid. Zweimal verzeiht ihm der Königssohn und denkt: »Ich verstehe zwar nicht, warum er das tut, aber er ist mein getreuer Johannes, er wird es schon wissen.« Das dritte Mal jedoch wird es ihm zu viel. Da fällt die Prinzessin beim Brauttanz ohnmächtig um, und der getreue Johannes saugt ihr drei Blutstropfen aus der Brust, wie die Raben es ihm geraten haben. Dadurch wird die Prinzessin zwar wieder lebendig, aber der Königssohn hat kein Verständnis mehr und schickt Johannes auf den Scheiterhaufen. Kurz bevor der Scheiterhaufen angezündet wird, erzählt Johannes dem Königssohn, warum er so gehandelt hat. Da bricht der Königssohn weinend zusammen, aber es ist zu spät. Der getreue Johannes ist zu Stein geworden. Der Königssohn stellt die steinerne Statue in sein Schlafzimmer und sitzt jeden Tag davor und klagt, er würde alles darum geben, seinen getreuen Johannes wieder lebendig zu machen. Eines Tages sagt die Statue zu ihm: »Du kannst mich wieder lebendig machen, wenn du dein Liebstes dafür opfern willst.« Sein Liebstes sind seine beiden kleinen Kinder, aber er ist bereit zu tun, was Johannes verlangt, er köpft die Kinder, und Johannes wird wieder lebendig. Dann heilt Johannes die beiden Kinder, und das Märchen geht gut aus.
Man kann den getreuen Johannes als eine Art inneren Führer begreifen. Jeder von uns hat eine innere göttliche Führung, die wir manchmal als innere Stimme empfinden, manchmal auch mit einer bestimmten Gestalt assoziieren – einem alten Weisen, einer alten weisen Frau, einem Schutzengel. Die Logik dieser Geschichte ist sehr tief: Wenn du die Anbindung an deine innere Führung verlierst, ist kein Opfer zu groß, um sie wiederzugewinnen. Die Schwierigkeit ist, dass diese innere Führung, diese Weisheit von uns oft Dinge verlangt, die unserem Verstand zuwiderlaufen, wie die Handlungen des getreuen Johannes: das Pferd töten, das Brautkleid verbrennen und dergleichen. Wenn wir auf die innere Stimme achten und sie ernst nehmen, müssen wir oft Dinge tun, die uns Angst machen, die irrational sind. Trotzdem wollen diese Dinge einem inneren Gesetz nach getan werden. Wer die Stimme missachtet,
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