Der Tigermann
Errol Lecale
Der Tigermann
Titel der Originalausgabe:
TIGERMAN OF TERRAHPUR
Aus dem Englischen übertragen von Lore Straßl
VAMPIR-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich
im Erich Pabel Verlag KG 7550 Rastatt, Pabelhaus
Copyright © 1973 by Errol Lecale
First published in Great Britain
by Universal-Tandem Publishing Co. Ltd. 1971
Deutsche Erstveröffentlichung
Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG
November 1974
Kein Mond leuchtete vom Himmel, als Devi sich über den Dschungelpfad stahl. Ihr Sari raschelte zwischen den Blättern, und das silberne Kettchen um die Fessel ihres linken Beins klirrte leise.
Die Dunkelheit störte Devi nicht, denn sie hätte ihren Weg auch mit geschlossenen Augen nicht verfehlt, führte er doch zum Haus ihres Liebsten. Wie oft schon hatte sie ihn heimlich besucht! Ja, heimlich mußte es geschehen, denn wohlerzogene Hindudamen machten keine Besuche bei jungen Männern, zu keiner Tageszeit, und bei Nacht erst recht nicht. Hindumädchen heirateten, wen immer ihre Eltern für sie erwählten, und sie sahen den Erkorenen während der Hochzeitszeremonien zum erstenmal.
Eine Entdeckung hätte ihr unerbittliche Hiebe eingebracht. Aber hätte Devi geahnt, was ihr bevorstand, sie wäre nach Hause geeilt und hätte auf Knien darum gebeten. Um dem zu entgehen, was sie in dieser Nacht erwartete, hätte sie sogar ihren Liebsten für immer aufgegeben.
Denn das personifizierte Böse, das Grauen, schlich auf leisen Sohlen durch die mondlose Nacht, und die Minuten, die ihr noch zu leben vergönnt waren, ließen sich an ihren zierlichen Zehen abzählen.
Ihr erster, erschrockener Gedanke, als sie die gedämpften Schritte hinter sich hörte, war, daß man sie nun sehen würde. Vielleicht war einer der Bauern unterwegs, um Wildschweine aus seinen Feldern zu verscheuchen. Oder vielleicht ein heimkehrender Zecher. Oder ein Jäger.
Sicher war nur eines, daß man über sie tuscheln würde.
»Bei Wischnu, ihr werdet nicht glauben, wen ich des Nachts im Dschungel traf. Die Tochter…«
Und sicher war auch, daß ihre Eltern schließlich davon erfahren würden.
Verzweifelt hielt sie Ausschau nach einer Stelle, wo sie sich im Dickicht verstecken könnte, bis der nächtliche Wanderer sie überholt hatte.
Aber undurchdringliches Dornengestrüpp wucherte auf beiden Seiten des Pfades. Sich einen Weg hindurchzubahnen oder sich darin zu verbergen, war unmöglich. Die scharfen Dornen an den unnachgiebigen Zweigen würden sie festhalten, würden ihren Sari zerreißen, und wie könnte sie das zu Hause erklären?
Und doch sollte ihr Sari auf grausigere Weise zerfetzt werden, als die spitzesten und längsten Dornen es vermocht hätten.
Ihre Schritte wurden schneller. Wenn sie sich vor dem Nachtwanderer schon nicht verstecken konnte, mußte sie eben flinker sein als er.
Nach einer Weile hielt sie lauschend inne.
Die Schritte hinter ihr klangen näher.
Wie eine eisige Hand griff die Angst nach ihrem Herzen. Sie wurde verfolgt. Es konnte gar nicht anders sein.
Ihr fielen die Dakoits ein, die immer noch in den unwegsamen Gebieten Terrahpurs ihr Unwesen trieben. Zwar hatten sie sich schon seit Jahren nicht mehr in die Nähe der Stadt gewagt, aber wer wußte schon, ob sie nicht zurückgekommen waren.
Die Dakoits waren keine gewöhnlichen Banditen. Die meisten von ihnen gehörten zu den Thugs, die gläubige Anhänger der schrecklichen Göttin Kali waren, der vierarmigen Gottheit des Todes und der Zerstörung. Sie glaubten ihren Opfern eine Gnade zu erweisen, indem sie sie töteten, denn nur im Tod konnte ihr Geist sich befreit mit der Unendlichkeit des Nichts vereinen.
Der Maharadscha hatte ihnen schon vor Jahren den Kampf angesagt und sie, abgesehen von den unzugänglichsten Gebieten, überall vertrieben. Und doch…
Devi achtete nun nicht mehr darauf, sich wie eine vornehme Inderin zu benehmen. Sie hob ihren Sari über die Knie und begann durch die Dunkelheit zu rennen.
Glühwürmchen tanzten zwischen den Bäumen, und der Dschungel war erfüllt von aufregenden Düften. Aber Devi merkte nichts davon. Nur ein Gedanke erfüllte sie: sie mußte laufen, laufen, bis ihre Lungen zersprangen und die Beine ihr den Dienst versagten.
Wohlerzogene Hindumädchen hatten wenig Gelegenheit, ihre Muskeln zu entwickeln. Allein die Vorstellung, laufen zu müssen, war ihrer Kultur fremd. Devi war noch nie in ihrem Leben schneller gerannt, und die Angst bremste auch noch die
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