Der Tigermann
verlieren sie ihre bestialische Form. Nun wird sich herausstellen, wer er wirklich ist.«
Vor ihren staunenden Augen fand die Transformation statt.
Das gestreifte Fell schwand langsam. Die helle Bronzefarbe der Haut kam zum Vorschein.Die langen Krallen an den Pranken zogen sich zurück, wurden zu Fingernägeln. Die Schnauze des Tiers schrumpfte, machte einem Kinn Platz.
Und auf diesem Kinn begann ein schwarzer Bart zu sprießen.
»Bei allen guten Geistern«, brüllte Grant, als die Züge erkennbar wurden. »Das ist ja- das ist ja…«
»Ja, es ist kein anderer als der Maharadscha«, murmelte Eli verstört.
Nun wurde ihm so vieles klar, was ihn im Unterbewußtsein gequält hatte. Als Mensch war der Maharadscha ein aufrechter, liberaler und dem Fortschritt aufgeschlossener Herrscher gewesen. Er hatte ehrlich das Beste für sein Land und für seine Untertanen gewollt. Aber tief in ihm versteckt hatte schon immer das Unterbewußtsein der Bestie gelauert. Und er, Eli, hätte schon viel eher dahinterkommen müssen, denn es hatte durchaus nicht an Anhaltspunkten gefehlt.
Er erinnerte sich an den verschwundenen Silberanzug, den die Maharani erwähnt hatte. Er erinnerte sich, daß er dem Maharadscha am frühen Morgen des vergangenen Tags nach einem mysteriösen Nachtritt begegnet war. Ganz sicher war inzwischen wieder ein bedauernswertes, zerfleischtes Opfer gefunden worden. Alle diese Anhaltspunkte hatten sich ihm geradezu aufgedrängt, aber er war mit Blindheit geschlagen gewesen. Doch wer erwartete schon, daß ausgerechnet der Mann ihn holen ließ,, den er vernichten mußte?
Und in der Vergangenheit – der Maharadscha selbst hatte erzählt, daß es auch zur Zeit seines Vaters und seines Großvaters Tigermänner gegeben hatte.
Es hatte in seinem Blut gesteckt. Und für einen Mann wie Saiva mußte es ein leichtes gewesen sein, die latente Anlage zu wecken und zu entwickeln.
Er kniete sich auf den Boden und sprach ein kurzes Gebet.
»Sie beten für ihn? «fragte Grant entrüstet.
»Nun findet er seinen Frieden – und vielleicht ist gerade dieses Ende für alle das beste. Die Maharani trug sein Kind unter dem Herzen. Nun ist sein Geschlecht ausgestorben und damit die verhängnisvolle Anlage. Es wird keine weiteren Tigermänner in Terrahpur mehr geben.«
Keine Freude über seinen Erfolg, den Sieg über die Schattenwelt, lag in seiner Stimme. Eine tiefe Trauer erfüllte ihn, drückte ihn schier nieder.
»Sei nicht betrübt, Bruder«, flüsterten die Stimmen in seinem Geist. »Es gibt keinen Sieger und keinen Verlierer. Das Rad hat keine Seiten und kann nicht gebrochen werden. Jedem sein Karma… «
Grant starrte immer noch fassungslos auf die beiden Leichen, während Eli den Majordomus aufsuchte, damit der sich um die Bestattung und alle Formalitäten kümmerte. Zumindest gab es in diesem Fall keine Probleme wegen Suttieh.
Aus der Ferne hörte er das Krachen, als das Dach des Kali-Tempels einbrach. Eine Weile wenigstens würde es keine Altäre geben, an denen die Menschen zur Göttin der Vernichtung beten konnten – und ohne eigenes Heiligtum hatte Kali keine Macht über die Sterblichen.
ENDE
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