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Der Tod ist mein Nachbar

Der Tod ist mein Nachbar

Titel: Der Tod ist mein Nachbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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Morse. »Muß Ihnen nicht leid tun, alter Freund. Und in einem haben Sie sogar recht: Ich habe tatsächlich geschummelt – in gewisser Weise.«
    »Soll das etwa heißen, daß Sie …«
    Morse nickte.
     
    *
     
    Jenes zugegebenermaßen vergnügliche kleine Zwischenspiel hätte keine Aufnahme in diese Chronik gefunden, wenn sich nicht das eine oder andere Detail davon im Gedächtnis von Chief Inspector E. Morse, Thames Valley Police, festgesetzt hätte, was sich später als durchaus bedeutsam erweisen sollte.

TEIL EINS
     

1
     
    In hypothetischen Sätzen, die durch ein »wenn« eingeleitet werden und sich auf die »unvollendete« Vergangenheit beziehen, steht das Verb in der Protasis wie in der Apodosis immer im Konjunktiv des Plusquamperfekts.
    (Donet, Grundlagen der lateinischen Syntax)
     
    Es mag ungewöhnlich sein, eine Kriminalgeschichte damit zu beginnen, daß man den geneigten Leser an die Regeln für Konditionalsätze in einer unleugbar toten Sprache erinnert. Im vorliegenden Fall allerdings hat diese Vorgehensweise einiges für sich.
    Wenn (wenn) Chief Inspector Morse das Kleid der Sprechstundenhilfe gesehen hätte, das ein Muster aus ungleich großen blauen, grauen und roten Dreiecken bildete, hätte ihn dieser Anblick vielleicht an die Uniform einer Stewardess der British Airways erinnert. Vermutlich aber nicht, da er noch nie mit British Airways geflogen war. Bei seiner einzigen Flugreise in der vergangenen Dekade hatte er so intensiv um sein Leben gefürchtet, daß er beschlossen hatte, sich fürderhin auf die (statistisch) sehr viel gefährlicheren Transportmittel Auto, Omnibus, Zug und Schiff zu verlegen.
    So gut wie sicher ist dagegen, daß der Chief Inspector der Sprechstundenhilfe selbst durchaus Beachtung geschenkt hätte. Sie war das, was der Volksmund in Yorkshire als »flotten Käfer« zu bezeichnen pflegte – eine lebhafte Frau mit dunklen Augen, langen Beinen und einer guten Figur, deren sorgfältig manikürte, unberingte Hände eine eheliche Bindung zumindest nach außen hin nicht erkennen ließen, woraus man vielleicht folgern konnte, daß sie Annäherungsversuchen hin und wieder nicht ganz abgeneigt war.
    Links oben an dem farbenfrohen Kleid steckte ein Namensschild: »Dawn Charles«.
    Im Gegensatz zu manchen ihrer Bekannten (und sicherlich im Gegensatz zu Morse) war sie mit ihrem Vornamen ganz zufrieden. Zwar hatte sie früher in diesem Punkt manchmal mit dem Schicksal (oder mit ihren Eltern) gehadert, aber inzwischen hatte sie das hinter sich. Freunde hatten sie im vergangenen Monat im Bird and Baby mit einem total liebenswürdigen und ziemlich aufregenden Studenten aus dem Pembroke College bekannt gemacht. Und als sie sich dabei ertappt hatte, daß sie gedankenlos auf ihrem Bierdeckel herumkrakelte, hatte der junge Mann ein denkwürdiges Gespräch mit ihr angefangen.
    »Sie heißen Dawn?«
    Sie hatte genickt.
    »Und sind Linkshänderin?«
    Sie hatte genickt.
    »Dawn – die Morgenröte … Kennen Sie die Zeile aus Omar Chayyam: ›In Träumen, als der Morgenröte linke Hand am Himmel lag …‹ Schön, nicht?«
    Ja. Wunderschön.
    Sie hatte die oberste Schicht von dem Bierdeckel abgezogen und ihn gebeten, das Zitat aufzuschreiben.
    Dann hatte er sie leise gefragt, ob sie sich wiedersehen könnten. Vielleicht zu Beginn des neuen Trimesters?
    Sie wußte natürlich, daß es dumm und albern war, der Altersunterschied zwischen ihnen betrug gut und gern zwanzig Jahre. Zu schade, daß er nicht zehn, zwölf Jahre älter war …
    Aber der Mensch ist nun mal dumm und albern und klammert sich an seine dummen, albernen Hoffnungen. Und dieser Tag, der 15. Januar, war der erste Tag des Frühjahrstrimesters an der Universität Oxford.
    Von Montag bis Freitag arbeitete sie von 18 bis 22 Uhr in einer Klinik in der Banbury Road (nördlich von St. Giles), und die Arbeit machte ihr Freude. Nach drei Jahren gehörte sie fast schon zum Inventar. Die meisten Ärzte begrüßten sie mit einem ehrlich gemeinten Lächeln, manche nannten sie inzwischen beim Vornamen.
    Nett.
    Sie war mal in einem Viersternehotel abgestiegen, in dem die Gäste als Begrüßungstrunk ein Glas Sherry bekommen hatten, und wenn auch die private Harvey Clinic mit so einem löblichen Service (vielleicht aus medizinischen Gründen?) nicht aufwarten mochte, hielt Dawn stets zwei Kannen mit frisch gebrühtem heißem Kaffee für ihre Patienten bereit. Die meisten waren gutbetuchte Herren in dunklen Anzügen, von denen einige, wie sie

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