Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
Basti war jung und beneidenswert gesund, obwohl er rauchte. Ein Nachzügler und nach Vaters Tod hoffnungslos haltlos.
»Es ist ein besonders bösartiger Tumor, der …«
»Bekommst du jetzt eigentlich Chemo?«
Leute beim Erzählen zu unterbrechen, schien eine von Bastis hervorragenden Stärken und Zuhören eine seiner ganz großen Schwächen. Resigniert verkniff sich Marvin eine Antwort. Er entschied sich, abzulenken.
»Was hast du denn da Schönes mitgebracht?«
»Ach ja, Blumen. Macht man doch so bei Krankenbesuchen! Du darfst hier doch Blumen haben, oder?«
»Sollten sie nicht in eine Vase, bevor sie vertrocknen?«
»Ja, klar! Weißt du, wo welche stehen?«
Marvin verwies ihn nach draußen. Es würde ihm ein paar Minuten der Ruhe zurückbringen, die er zuvor, wie er jetzt wusste, nicht ausreichend genossen hatte. Doch die Erholungspause dauerte nur kurz. Als Basti wieder hereinkam, hielt er ein gläsernes Gefäß in der Hand, das nur sehr entfernt einer Vase glich.
»Was ist das denn?!«
Marvin konnte kaum glauben, was er sah.
»Eine Vase! Wieso?«
»Das ist keine Vase, das ist eine Urinflasche!«
»Echt? Ach, wenn schon!«
Kurzerhand ging Basti ins Bad, füllte die Flasche mit Wasser und komponierte den bunten Supermarktstrauß zu einem formlosen Bündel. Das fertige Arrangement stellte er Marvin neben den Suppenteller auf den Nachtschrank.
»Basti! Das ist ekelhaft!«
»Stell dich nicht so an – die ist doch desinfiziert. Diese Flasche ist wahrscheinlich sauberer, als dein Teller da. Was hast du da eigentlich drin?«
»Suppe!«
»Und warum isst du sie nicht?«
»Mir ist übel! Seit einer Minute wieder verstärkt.«
»Das tut mir leid. Darf ich?«
Sein Bruder verschmähte tatsächlich das Krankenhausessen nicht. Dieser große Kerl, immer hungrig und dennoch nie mit auch nur einem Kilo zu viel auf den Rippen, verarbeitete stets alles, was er aß, in Muskelmasse.
Glücklicherweise holte sich Basti Teller und Brot an den Besuchertisch, der etwas weiter von Marvins Bett entfernt stand. So brauchte er nicht jeden seiner Löffel im Detail mit ansehen. Nur der Geruch von Salzigem ließ sich nicht vermeiden und erfüllte den Raum.
Während Basti die grünliche Bröckchensuppe schlürfte, erzählte er von seinem Besuch bei Lisa: »Hab’ ich dir schon erzählt, was die Katze bei euch zu Hause angestellt hat? Ich ließ das Vieh kurz raus, in den Garten. Weißt du, was passiert ist? Sie kam herein und kotzte. Mitten auf den Wohnzimmerteppich! Das wäre ja auch noch nichts Besonderes gewesen, aber plötzlich lag da das durchgekaute Vorderteil einer Maus vor mir auf dem Boden. Ich dachte, mir kommt gleich alles hoch! Vor allem verschwand die Tigerin sofort wieder und ich weiß bis jetzt nicht, wohin sie das Hinterteil ausgewürgt hat! Wenn Lisa also irgendwann was Ekeliges riecht in eurem Haus, wisst ihr, woran es liegt.«
Marvin schluckte. Dank dieser ausführlichen Beschreibung zerbröckelte seine Selbstbeherrschung endgültig. In Gedenken an eine zerteilte graue Maus, deren Hinterteil irgendwo in seinem Hause verweste – vielleicht sogar unter seinem Bett – erbrach sich die zurückgehaltene Übelkeit innerhalb von Sekunden über Marvin. Er schaffte es gerade noch bis zur Toilette.
Bastian stand betroffen im Zimmer, als er eine viertel Stunde später aus dem Bad zurückkehrte.
»Mensch – du bist aber empfindlich!«
Marvin legte sich wieder ins Bett und wischte mit einem Taschentuch den Schweiß aus seinem Gesicht, der wie ein feuchter Lappen auf seiner Haut lag. Ein ekeliger Geschmack verbreitete sich in seinem Mund, gerade so, als hätte er auf Metall herumgelutscht.
»Lass mal – das ist die Chemo. Was wolltest du eigentlich bei Lisa?«
»Ach, nichts weiter. Ich habe sie etwas gefragt. Aber ich denke, ich hätte gleich dich fragen sollen.«
Ordnungsgemäß stülpte sein Bruder die Haube über den leeren Suppenteller. Marvin konnte also auf eine allmähliche Eliminierung des Essensgeruchs im Zimmer hoffen.
Während Basti jetzt stückchenweise krümelnd das Weißbrot in Angriff nahm, begann er – schweigend, wie es sonst nicht seine Art war – in dem engen Raum auf und ab zu gehen, was bei seinen langen Beinen nur wenige Schritte ausmachte. An allem, was ihm dabei auffiel, fingerte er eine Weile herum: an dem kleinen schwarzen Kreuz, das über dem Tisch an der Wand hing, an Marvins Morgenmantel, der über der Lehne des Besucherstuhls lag, am Bettgestell des inzwischen eingeschlafenen Nachbarn, an dem nach oben
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