Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
Lisa.
Marvin fühlte sich hintergangen. Wieso tuschelten sie hinter seinem Rücken? Sie glaubten also nicht mehr an ihn und seine Zukunft. Da kannten sie ihn aber schlecht! Nein – es war noch nicht Zeit für ihn, zu gehen! Das bedeutete Kampf! Und kämpfen konnte er! ›Versager‹ sollte nicht in seinem Nachruf stehen. Schließlich brauchte er noch viel Zeit, um aus Basti einen lebensfähigen Mann zu machen – sehr viel Zeit.
Sein Bettnachbar erwachte unterdessen aus seinem echten oder vorgetäuschten Schlaf und begann in seinem Bett herumzuwühlen, bis er endlich eine passende Position zum Sitzen fand. Jede seiner Bewegungen begleitete er mit beschwerlichen Seufzern. Aber jetzt saß er endlich und Marvin bemerkte, er beobachtete ihn, genau wie er selbst, aus dem Augenwinkel heraus.
»Soll ich Ihnen einen guten Rat geben? Gehen Sie nach Hause! Empfangen Sie keine Besucher! Sterben Sie in Frieden!«
Marvin riss den Kopf herum. Unglaublich!
»Ich habe eigentlich vor, zu kämpfen. Ich sehe mein Leben noch nicht als beendet an!«
Sein Gegenüber ließ sich von Marvins Kampfeswillen nicht beeindrucken.
»Wie viele Wochen oder Monate haben Ihnen die Ärzte denn gegeben? Oder hat man Ihnen gar ein ganzes Jahr versprochen?«
Wie konnte dieser Mann so niederschmetternd mit ihm reden? Und offensichtlich war sein Schlaf vorhin wohl doch nur vorgetäuscht gewesen.
»Kein Arzt der Welt bestimmt, wie lange ich noch zu leben habe! Es kann ja sein, dass Sie aufgegeben haben. Ich jedenfalls gebe mich nicht so schnell geschlagen!«
Damit drehte sich Marvin auf die andere Seite und tat so, als sei die Sache für ihn erledigt. Doch sein Nachbar setzte das unerwünschte Gespräch weiter fort.
»Ja, ja, so ähnlich hat ihr Vorgänger auch geredet. Jetzt ist er tot! Er starb eher als ich und schneller als jeder Arzt prophezeite und überhaupt so schnell, dass es vielen Leuten recht war.«
Trotz des Vorsatzes, die Nervensäge zu ignorieren, regte sich Marvin weiter auf. Ruckartig wandte er sich wieder um.
»Was geht Sie eigentlich mein Leben an? Gar nichts! Wie würden Sie es finden, wenn ich Sie fragte, wann Sie eigentlich ins Gras beißen werden?«
So! Damit sollte wohl genug der Diskussion sein. Gleich bei der nächsten Visite wollte Marvin seine Ärztin fragen, wann er endlich sein Einzelzimmer bekommen konnte. Diese Zimmergemeinschaft war eine Zumutung! Er drehte sich wieder weg und wartete auf die nächste provokante Äußerung des Nachbarn. Doch es blieb ruhig. Endlich! Jetzt fiel dem Schnarchsack wohl nichts mehr ein.
Die nächsten Minuten blieben still. Marvins Wut verflog langsam, seine Unruhe aber nicht. Was, wenn der Kerl recht behielt? Vielleicht gab es nichts zu kämpfen. Vielleicht war es Zeitverschwendung. Ein Kostenfaktor für die Krankenkasse. Ein Alibi für die letztlich machtlosen Ärzte.
»Ein halbes Jahr!«
Die plötzliche Stimme von hinten zerrte Marvin aus den Gedanken. Er setzte sich auf und fixierte den Mann im Nebenbett. Der lag auf dem Rücken, das Gesicht zur Decke gerichtet.
»Ein halbes Jahr haben Sie mir gegeben! Und jetzt sind bereits sieben Monate um.«
Sechs Monate waren nicht viel, dachte Marvin. Vor allem nicht, wenn sie bereits abgelaufen waren.
Der Nachbar blieb einfach auf dem Rücken liegen und starrte weiter an die Decke. Dass er schon seit einem Monat tot sein sollte, machte ihn für Marvin plötzlich ungemein interessant. Ein Mensch, am Ende seines Lebens. Zum ersten Mal machte er sich die Mühe, das Gesicht dieses Mannes näher zu betrachten. Es sah breit aus. So wie der ganze Mann breit und gedrungen aussah. Ein bisschen aufgedunsen, vielleicht von Medikamenten. Cortison? Die Nase ruhte auffallend platt mittendrin. Das Schnarchen verwunderte also nicht. Mit solchen Nasenlöchern konnte kein Mensch vernünftig Luft bekommen! Hinter einem sehr hohen Ansatz wuchsen die Haare gelblich-grau und dünn gesät aus seiner Kopfhaut. Möglicherweise war er früher einmal blond gewesen. Traurig wirkte seine Miene, aber nicht so verbittert, wie Marvin gemeint hatte. Seltsam … bisher hatte er seinen Mitpatienten noch nie als Kranken wahrgenommen. Todkrank zu sein, machte ihn jetzt tatsächlich zu einem Leidensgenossen. Nun beschämte es ihn fast, lautstark mit ihm gestritten zu haben.
»Woran sind Sie denn erkrankt, wenn ich fragen darf?«
»Lassen Sie uns nicht von mir sprechen. Reden wir von Ihrem Vorgänger in diesem Zimmer!«
Der stämmige Mann wurde plötzlich wieder lebendig. Er drehte sich auf
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