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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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die Seite und sah Marvin bedeutungsvoll an.
»Mein Name ist Frederik Schumann. Früher war ich Boxer!«, sagte er und deutete auf seine Nase.
Marvin legte sich auch auf die Seite, den Kopf auf den rechten Arm gestützt, um seinem Nachbarn bequem ins Gesicht zu schauen.
»Marvin Abel.«
Sie nickten sich zu und augenblicklich erschien Marvin der gesamte Raum ganz anders – wärmer, vertrauter, sei es bloß durch den Austausch ihrer Namen oder durch ihre sanfteren Stimmen.
»Und … was machen Sie heute?«, fragte Marvin.
Frederik grinste. »Ich erzähle Geschichten!«
Und dann begann er, zu erzählen. Dabei entwickelten seine Gesichtszüge eine erstaunliche Ausdrucksfähigkeit. Augen, Mund, Wangen und die wackelnden Bewegungen seines aufgestützten Kopfes begleiteten seine Worte. Er schien ein begeisterter Geschichtenerzähler zu sein.
»Ich erzähle mal von meinem Bettnachbarn André, der genau zwei Tage vor Ihrer Ankunft hier tot herausgeschoben wurde.«
Marvin hatte plötzlich Hemmungen, seinen Kopf abzulegen. Schon der Gedanke, genau an derselben Stelle zu liegen, an der jemand verstorben war, gruselte ihn.
„Als André hier eingeliefert wurde, kam er als stattlicher Bursche – ungefähr so kräftig wie Ihr Bruder vorhin. Ein Mann, der mitten im Leben stand, und es ging ihm nach eigenen Aussagen zu diesem Zeitpunkt gar nicht so schlecht. Man hatte einen Tumor bei ihm festgestellt. Doch André bereitete sich darauf vor, zu kämpfen. Und glauben Sie mir, er sah so aus, als ob er es schaffen könnte. Bereits am ersten Abend erhielt er jede Menge Besuch. Alles gute Freunde! Der Erste wollte Geld – aber das kennen Sie ja – der Zweite fragte danach, wie er in seinem Testament berücksichtigt werden würde und der Nächste wollte Andrés Auto behalten. Und so ging es weiter, Tag für Tag. Ich vermute, André war ziemlich vermögend. Es gab niemanden, der nicht irgendetwas von ihm wollte. Nach etwa drei Wochen war er genervt genug, jedem alles, was sie forderten, zu versprechen. Er machte sogar ein Testament, in dem er alles festhielt.«
Frederik legte eine Pause ein, als wollte er Marvins Reaktion auf das Erzählte prüfen. Dann nahm er einen Schluck Wasser und sprach weiter: »Aber André dachte nicht daran, zu sterben! Er kämpfte wirklich, nahm jede Anwendung wahr, schluckte jede Tablette, machte alles durch, was Sie jetzt auch durchmachen werden: Übelkeit, Schmerzen, Schwäche, Haarausfall, Hautausschlag. Alles das, um sein Leben zu verlängern. Zweimal verließ er das Krankenhaus, zweimal kam er wieder zurück. Beide Male streckten ihn nur die Nebenwirkungen der Medikamente nieder. Die Chemotherapie machte in kurzer Zeit einen hageren blassen Mann aus ihm. Doch bei einer Kontrolluntersuchung stellte man plötzlich keinen Tumor mehr in seinem Kopf fest. Wie durch Zauberei schien er verschwunden!«
Marvin horchte auf. »Der Tumor war verschwunden? Aber wie?«
Frederik erhob kurz seine Hand und sprach unbeirrt weiter.
»Passen Sie auf! Trotzdem erhielt André seine Zytostatika weiter. Man glaubte, die Medikamente hätten den Tumor vernichtet und man wollte nicht riskieren, durch einen Abbruch der Therapie einen Rückfall zu verursachen. André galt bei den Ärzten als echtes Wunder. Neurochirurgen aus anderen Kliniken kamen, um sein Hirn mit eigenen Augen zu begutachten. Man verglich die Aufnahmen seines Schädels mit den Kontrollaufnahmen und staunte. Seinen Freunden aber gefiel das gar nicht. Sie kamen weiterhin zahlreich und sahen, wie Tag für Tag sein Testament an Wert verlor. Eines Tages kam André von einer Untersuchung zurück und packte seine Sachen. Er schien verwirrt und auch wütend. Auf meine Frage hin vertraute er mir an, es gäbe den Verdacht, dass eine Verwechslung geschehen sei – einen Tumor in seinem Kopf hatte es niemals gegeben! Irgendein übermüdeter Assistent hatte seine Aufnahmen mit denen eines anderen Patienten verwechselt.
›Das wird mein zweiter Geburtstag‹, sagte er zu mir. ›Morgen gehe ich nach Hause und mein erster Weg wird der zu meinem Rechtsanwalt sein. Ich werde dieses Krankenhaus verklagen, dass es sich gewaschen hat. Und am Abend werde ich eine Feier geben, auf der ich mein Testament vor aller Augen zerreiße.‹
So sprach er, dann holte André eine kleine Flasche Sekt aus seinem Morgenmantel, die er im Krankenhauskiosk gekauft hatte, und wir beide stießen mit Sekt in Wassergläsern auf seine Gesundheit an.«
Frederik stoppte. Es sollte wohl eine bedeutungsvolle Pause

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