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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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sein, die er einlegte, um seinen Zuhörer neugierig zu machen, denn er ließ sich Zeit. Erst einmal setzte er sich hin, nahm wieder einen Schluck Wasser, dann schmatzte und hustete er ein paar Mal. Danach wandte er sich wieder Marvin zu, während er seine Füße an der Bettkante herunterbaumeln ließ und sich mit den Händen aufstützte. Die Geschichte erhielt ein neues Kapitel.
»Was sage ich Ihnen? An dem Morgen, als er mit seinen gepackten Sachen das Krankenhaus verlassen wollte, fand ich André kalt in seinem Bett liegend. Genau dort, wo Sie jetzt liegen. Tot! Gestern noch plante er die größte Feier seines Lebens – und plötzlich war er tot; sein Gesicht schneeweiß, die Lippen blau und die Augen offen!«
Marvin staunte nicht schlecht. Frederiks Geschichte faszinierte ihn, obgleich er sie für unwahrscheinlich hielt.
»Und wie ging es weiter?«
»Die Ärzte behaupteten, er sei an seinem Tumor verstorben. Ein epileptischer Anfall hätte ihn im Schlaf überrascht. Von der Verwechslung seiner MRT-Unterlagen war keine Rede mehr. Wenn Sie mich fragen, ging das nicht mit rechten Dingen zu!«
»Sie meinen, er wurde ermordet?«
»Das habe ich nicht gesagt!«
»Aber was sagt die Polizei dazu?«
»Welche Polizei?«
»Es muss doch Polizei gekommen sein, nach dem er so unnatürlich gestorben ist.«
»Wieso unnatürlich? Die Ärzte sagten ›Tod durch Gehirntumor‹. Wer sollte das anzweifeln? Und glauben Sie mir: Niemanden, der im Testament bedacht ist, interessiert die genaue Todesursache!«
»Eine verrückte Geschichte!«
Frederik nickte vielsagend mit dem Kopf. Er genoss sichtlich die Beachtung, die seine Geschichte fand.
Marvin sah den toten André bildlich vor sich. Ausgezerrt, totenbleich, mit aufgerissenen Augen, qualvoll erstickt!
Natürlich glaubte er Frederiks Geschichte nicht in jedem Detail. Dazu war sie zu unglaublich! Aber so im Grundsatz? Warum nicht? So etwas konnte man sich doch nicht komplett ausdenken. Wahrscheinlich schmückte Frederik die Ereignisse nur ein wenig aus. Mord - na ja, aber an eins wollte er in jedem Fall glauben: nämlich an das Verwechseln von Patientendaten. Er hatte schon immer an der Qualifikation von Arzthelfern gezweifelt. Sicher waren sie allesamt die billigsten Kräfte, die man auf dem Arbeitsmarkt bekommen konnte. Mal abgesehen von Schülerin Elke.
Marvin dachte an seine eigenen Beschwerden, die ihm gering genug erschienen, um ernsthafte Zweifel zu hegen. Schließlich gab es noch keine weitere Meinung von einem auswärtigen Spezialisten zu seiner Diagnose. Wie leichtsinnig von ihm! Womöglich war sein Vertrauen in die Ärzte vor Ort zu groß gewesen. Was wusste er schon über ihre fachlichen Qualitäten? Je länger Marvin darüber nachdachte, desto unsicherer erschien ihm die von ihnen gestellte Diagnose. Und jetzt lag er hier und erhielt bereits Chemotherapie! Nicht auszuschließen, er könnte allein durch die Nebenwirkungen sterben.
»Bekommen Sie auch Chemotherapie?«, fragte er zum anderen Bett hinüber.
Frederik warf ihm einen überraschten Blick zu. Für einen Moment sah es so aus, als wollte er nicht antworten. Doch dann winkte er verächtlich ab.
»Ich? Ich mache keine Chemotherapie! Warum sollte ich mich vergiften lassen? Nach all den Erlebnissen in diesem Krankenhaus? In den nächsten Tagen gehe ich nach Hause und lebe so, wie ich es immer getan habe. Und wer weiß, vielleicht bin ich ja auch gar nicht so krank, wie die Ärzte behaupten. Nichts ist sicher, nicht einmal der Tod.«
»Wollen Sie gar nicht kämpfen?«
»Ich werde es so nehmen, wie es kommt. Für wen oder was wollen Sie kämpfen?«
Marvin dachte an sich, an Basti, der noch immer nicht erwachsen war, an Lisa und seine Tochter Julia.
»Für meine Familie! Haben Sie niemanden zu Hause, der Sie erwartet?«
»Doch, meine Frau! Sie wird für mich da sein, sollte es wirklich so weit kommen … Wenn ich sie nicht hätte …«
Plötzlich versagte Frederiks Stimme. Der grobe Mann schwächelte. Marvin ließ ihn.
Sehr viel später sprach er ihn noch einmal an: »Haben Sie Angst vor dem Tod, Frederik?«
Es dauerte lange, bis er antwortete.
»Mich ängstigt mehr das Sterben, als der Tod. Vor allem aber fürchte ich das, auf was ich nicht gefasst bin. Das, was mich überraschen wird.«
Sie redeten nicht weiter über das Thema und dieser Nachmittag verging sehr ruhig.

Als das Telefon klingelte, musste Marvin erst einmal realisieren, dass es das seine war, das läutete. Nach einigen unbeholfenen Körperdrehungen, die er

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