Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
sie sich von ihm trösten lassen. Das würde sie doch nicht, während sie Marvin gegenüber keine Silbe dazu verlöre? Sie erwähnte nichts von irgendwelchen Tränen, die sie laut Basti wegen Marvins schlechter Prognose vergossen hatte. Wer von beiden täuschte ihn hier? Der Gedanke, Lisa würde sich in den Armen eines anderen Mannes ausheulen, war Marvin zuwider; selbst, wenn es Basti gewesen wäre. Das war geradezu unmöglich! Doch er wagte nicht, es auszusprechen. Sie hätte es wie immer falsch verstanden, Lisa – die Empfindliche. Seine Ehe war glücklich! Gut, es gab gelegentliche Reibereien, wie sie in jeder guten Ehe vorkamen. Nichts Besonderes. Nichts von dem war je Lisas Aufbrausen wert gewesen, und dem Theater, was sie daraufhin gemacht hatte. Marvin war glücklich mit seiner schönen Frau und er weigerte sich, das zu verlieren.
»Mein Bettnachbar erzählte mir, genau hier hat jemand gelegen, bei dem die Patientenbilder vertauscht worden waren«, berichtete er ihr und er fügte hinzu: »Ich glaube, das ist bei mir auch passiert.«
Plötzlich sah ihn Lisa aufmerksam an. Endlich einmal blieben ihre Augen länger als einen Moment an ihm haften. Groß und grün waren sie und sie blickten fragend und abwartend. Sie sah zu ihm auf wie damals, als sie ihn noch so angehimmelt hatte. Voller Bewunderung darüber, was er alles wusste. Marvin genoss diesen Augenblick und hätte ihn gerne festgehalten.
Sie zog die Brauen zusammen. »Bist du dir sicher?«
»Ich kann natürlich nicht hundertprozentig sicher sein. Aber je länger ich darüber nachdenke, desto weniger will ich es ausschließen. Ich habe doch gar keine Beschwerden, nur ein bisschen Kopfschmerzen.«
»Und die Chemotherapie? Was willst du tun?«
»Ich weiß noch nicht. Ich denke, ich werde noch einmal mit dem Chefarzt reden müssen.«
Zum ersten Mal – schien es ihm – hörte sie richtig zu, seit er hier im Krankenhaus lag. Als sie später ging, war Marvin gut gelaunt und voll Zuversicht. Sie glaubte ihm und das allein war ihm eine Bestätigung.
Schwester Sabine war die Erste, die er nach diesem André befragte. Er hatte ihre abweisende Haltung zwar erwartet, ihr rüder Tonfall überraschte ihn dennoch.
»Welcher André?«
»Der junge Mann, der vor mir in diesem Zimmer gestorben ist. Ich hörte, er soll erstickt worden sein?«
»Hier ist niemand erstickt worden! Wer hat Ihnen denn so etwas erzählt?«
Verächtlich blickte sie zu Frederiks Bett hinüber. Es war leer, da der alte Boxer, wie jeden Nachmittag, stundenlang in der Cafeteria zubrachte.
»Glauben Sie wirklich alles, was man Ihnen erzählt?«
»Warum sollte mein Nachbar mir Märchen erzählen?«
»Weil er ein Märchenerzähler ist! Wissen Sie das nicht? Er schrieb Bücher, bevor er krank wurde.«
Sie nahm die leeren Tablettenschachteln von Frederiks Ablage.
»Jetzt geht das schon wieder los!«, murmelte sie mehr zu sich, als zu Marvin. Dann laut: »Entschuldigung, ich habe es eilig. Sie sind nicht der einzige Patient, der Betreuung benötigt. Und ich bitte Sie, mich nicht noch einmal mit dieser Geschichte zu belästigen!«
Sprachlos sah Marvin ihr nach. Gerade durch die Tür gegangen, kam sie noch einmal einen Schritt zurück.
»Ach ja … und wenn Schülerin Elke kommt, um ihren Blutdruck zu messen, halten Sie sie bitte nicht wieder auf. Wir können nicht ständig auf die Kleine warten und ihre Arbeit für sie machen.«
Der nächste Tag begann mit einem Schock. Als die Morgentruppe der Krankenschwestern ihn aus dem Bett werfen wollte, um die Kissen zu schütteln, stürzte Marvin fast heraus. Er wollte sich auf seinen linken Arm stützen, doch seine Hand war plötzlich nicht mehr da. Sie war einfach weg – nicht wirklich, aber sie versagte. Ohne die Hand knickte er natürlich ein und begann zu fallen, unfähig, sich so schnell auf die neue Situation einzustellen und sich anders festzuhalten.
Er verdankte es Schwester Sabine, nicht komplett aus dem Bett zu fallen, denn als sein Oberkörper bereits mehr draußen als drinnen lag und sein Kopf nur noch wenig über dem Boden schwebte, fing sie ihn geistesgegenwärtig mit ihrem Körper auf, indem sie sich vor ihn stellte. Marvin umschlang ihre Beine und blieb hilflos in dieser peinlichen Umklammerung gefangen. Er kam nicht vor und nicht zurück, mit dem Gesicht an ihre weiße Hose gepresst, bis ihn jemand von der anderen Seite wieder ins Bett hineinzog. Es brauchte eine Weile, bis Marvin begriff. Eine Gefühllosigkeit seiner Hand hatte das Missgeschick
Weitere Kostenlose Bücher