Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
geworden war.
Sie umarmten sich eng, Marvin einarmig vom Bett aus, und Karl holte sich den Stuhl heran.
»Wie lange haben wir uns schon nicht mehr gesehen?«, fragte Marvin.
»Ich glaube, es war auf der Konfirmation deiner Tochter.«
»Dann ist es etwa sechs Jahre her. Dabei wohnen wir gar nicht weit auseinander.« Er klatschte mit seiner Rechten auf Karls Bauch. »Hast ein bisschen was zugelegt!«
»Findest du?«
Karl blickte an seinem Bauch herab und umfasste die kleinen Speckröllchen, die sich unter dem schwarzen Rollkragenpullover beim Sitzen abzeichneten.
»Na ja – dafür wird wenigstens mein Haar weniger!«
Er strich sich langsam über den Kopf, als wollte er seinen hohen Haaransatz befühlen. Die Haare waren nicht wirklich weniger geworden, nur etwas grauer, als vor sechs Jahren. Es stand ihm gut, das Grau. In Marvins Augen verlieh es ihm etwas Würdevolles, wodurch seine Erscheinung an die eines Professors erinnerte. Karl war groß und stattlich, mit ausdrucksstarken Gesichtszügen. Er trug deutliche Linien zwischen Wangen und Mundpartie, eine reine Haut mit einem stets sorgfältig rasierten Kinn, ein paar sympathische Krähenfüße um die Augen und eine gerade, wohlgeformte Nase. Karls noch immer schwarze Augenbrauen hoben sich vom Grau der Haare ab. Diese Brauen dominierten seit je her dieses majestätische Gesicht, indem sie sich mit jedem Ausdruck mitbewegten und jedes seiner Worte mimisch unterstrichen. Das Haar trug er kürzer als damals, wegen der hohen Stirn vermutlich. Der kleine Speckansatz schadete ihm nicht – im Gegenteil. Er sah ausgesprochen gut aus, fand Marvin, dazu jedoch sehr ernst und ein wenig autoritär. Wahrscheinlich noch immer ein Schwarm vieler Frauen.
»Erinnerst du dich, wie wir als Kinder vor der Schule die Schulaufgaben ausgetauscht haben?«
Karl lachte.
»Ja – wir wechselten uns ab. Einer machte sie zu Hause und der andere schrieb sie ab.«
»Und weißt du noch von dem Feuer in der Gartenhütte von unserem Nachbarn?«
»Oh ja! Wir sind gelaufen, was das Zeug hielt, weil sie uns fast erwischt hätten! Ich glaube, es hat nie jemand herausgefunden, dass wir das waren.«
»Ach Karl, dir habe ich manches Geheimnis erzählt, welches ich keiner Seele sonst anvertraut hätte. Bei einigen hoffe ich bis heute, du wirst es niemandem verraten.«
Karl hob die Hände zum Schwur.
»Du weißt doch – als Pfarrer ist man an die Schweigepflicht gebunden.«
»Damals warst du aber noch ein ganz normaler Junge.«
»Willst du damit sagen, ich sei jetzt weltfremd?«
»Nein – ganz bestimmt nicht. Die Gesellschaft braucht Menschen wie dich. Ich habe nur nie verstanden, wieso du Theologie studiert hast. Ich war halt nie gläubig.«
Karl lächelte nachgiebig. »Schade, eigentlich.«
»Wolltest du mich missionieren?«
»Nein! Könnte so ein Versuch denn Erfolg haben?«
»Wer weiß? Wenn man hier so liegt, denkt man über vieles nach.«
Eine Weile saßen sie sich stumm gegenüber. Karl schien genauso in Gedanken versunken wie er. Erinnerungen aus der Jugend gingen Marvin durch den Kopf, so als wären sie kaum vergangen. Ein Traum, eben erst geträumt.
»Das Leben geht viel zu schnell vorüber.«
Karl nickte. »Jeder Tag ist ein Geschenk.«
Marvin widersprach. »Jeder Tag, an dem man sich wohlfühlt, ist ein Geschenk.«
Entschlossen schüttelte Karl den Kopf.
»Nein – jeder Tag! Krankheit gehört zum Leben dazu.«
»Das sagt sich leicht, wenn man selber gesund und putzmunter dasitzt. Wir können ja gerne mal tauschen!«
Karl blieb stur. »Leben kommt und vergeht. Das ist so und das muss so sein!«
Marvin dachte an die Worte seines Bruders Basti. ›Erst ist da nichts, dann ein Leben und dann wieder nichts.‹
»Mag sein – aber wozu?«
»Es muss sich verändern. Ohne diese Veränderung wäre alles wie vor Millionen von Jahren.«
»Du meinst, wir beide wären dann noch Einzeller? Die Gefahr, dass diese eine Zelle Krebs entwickelt, wäre wohl gering.«
Sie lachten beide kurz sarkastisch auf.
»Warum genießt du das Leben nicht einfach?«, sagte Karl dann.
»Würde ich ja gern! Aber – du entschuldigst – ich kotze jeden Morgen und bin plötzlich spastisch gelähmt. In meinem Kopf wächst ein Monster und beginnt, mein Gehirn zu fressen. Was soll ich, bitte schön, daran genießen?«
»Und ich bleibe dabei. Alles das ist Leben! Erst wenn du das alles nicht mehr spürst, dann lebst du nicht mehr.«
»Aber ich kann das so nicht annehmen.«
»Weil du nur in deinen Wünschen lebst. Die Welt ist nun
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