Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
besonders gehen? Oder meinten sie vielleicht, jetzt bräuchte man ihm nichts mehr vorzumachen.
»Es muss doch einen Auslöser gegeben haben, Jens. Etwas, mit dem alles anfing. Man kann sich doch nicht von einem Tag auf den anderen hassen?«
»Wieso es dazu kam? Es war vor gut drei Jahren. Auslöser war ein Wunsch von mir, den ich geäußert hatte, mehr nicht. Sie hat mich danach befragt, ja förmlich gedrängt, es zu sagen. Ohne Aufforderung von ihr, hätte ich mich niemals gewagt, es auszusprechen.«
Welches Geheimnis von Jens nun der Auslöser für ihre Abscheu war, verriet er nicht. Er erzählte nur, dass es ein intimer Wunsch gewesen sei. Sie hatte ihn gefragt, er hatte nach einigem Zögern geantwortet, und von da an verachtete sie ihn, fand ihn ekelhaft.
Genau deshalb, weil er es nicht verriet, konnte Marvin sich nicht dagegen wehren, insgeheim zu rätseln, welche geschmacklose Sexpraktik wohl zu Jens passte.
»Was soll ich tun, Marvin?«
»Wie kommst du darauf, dass ich dir einen Rat geben könnte?«
»Ich dachte, wo du jetzt – du weißt schon – du müsstest doch über den Dingen stehen.«
»Warum?«
»Na … weil man es so sagt.«
Sie kam Marvin bekannt vor, diese Anspielung auf seinen drohenden Tod, und es erbitterte ihn, dies nun auch von Jens zu hören.
»Du meinst also, weil ich Schmerzen habe, an neurologischen Ausfällen leide oder mit betäubenden Medikamenten vollgepumpt bin, könnte ich jetzt besonders klar denken?«
Jens sah erstaunt aus. »Man sagt doch, dass man vor seinem … naja … eine gewisse Weisheit erlangt?«
Er blickte so fragend, dass Marvin sich fast selber wunderte, warum er bisher nicht jene Weisheit erlangt hatte.
»Überlege selbst, was du tun musst. Es ist dein Leben. Vielleicht hilft dir eine Eheberatung. Vielleicht hilft auch nur die Ehrlichkeit einer Scheidung. Schon mal daran gedacht?«
»Scheidung ist so ein gewaltiger Schritt. Nicht nur, dass Marietta Haus und Geld gehört. Sie ist auch der Motor aller meiner freundschaftlichen und beruflichen Beziehungen. Aber ich weiß, Lisa hatte ja auch davon gesprochen, dass …«
»Ich kann dir nicht helfen!« Marvin schrie ihn an. »Ich bin nicht weise, überhaupt nicht. Geh bitte!«
Er warf Jens hinaus. Er schrie ihn so lange an, bis Jens schnellstmöglich seine Sachen nahm und die verblüffte Marietta fast umrannte, die gerade zur Tür hereinkam.
»Und du, nimm diesen dämlichen Hundekopf aus meinem Bad und verschwinde!«
Das reichte, um Marietta hinterher zu schicken.
Den Rest des Tages vergrub sich Marvin mit Schwindel und Augenflimmern unter der Bettdecke. Einfach gar nichts war so, wie er es sich vorgestellt hatte. Sämtliche Erinnerungen muteten ihm auf einmal wie Schein an. Seine Gespräche bei Jens und Marietta auf der Veranda, sein Erfolg in der Firma, seine eigene Beziehung zu Lisa … sein gesamtes Leben schien nur noch zurechtgelegt und zusammengeträumt – ein Traum von Gestern und Morgen. Die Eheberatung gemeinsam mit Lisa war ein Reinfall gewesen. Natürlich wusste er es. Ein Reinfall nämlich deshalb, weil er sich geweigert hatte, seine selbst zusammengestrickte heile Welt zu ändern – ja seine heile, heilige Welt, in der alles so sein musste, wie es Marvin gefiel – zu keinem Zugeständnis bereit. Lisa aber hatte damals eine Änderung erwartet. Sie hatte frei sein wollen, selbstständig, nicht von ihm wie ein schönes Attribut besessen. Und sie hasste Marvins Eifersucht. Damals hatte sie auch wieder angefangen zu arbeiten, obwohl es ihm nicht passte. Selbst mit ihren Arbeitskollegen wollte er sie nicht teilen.
Der Abend präsentierte sich einsam, die Krankenhausdecke zu dünn und Lisas Anruf zu kalt, um ihn zu wärmen. Erst eine Wolldecke und ein Schlafmittel der Nachtschwester brachten ihm Ruhe.
Als er am nächsten Tag Karl zur Tür hereinkommen sah, fühlte Marvin etwas, was er schon lange nicht mehr empfinden konnte. Es begann mit einem kleinen Kribbeln knapp unter dem Herzen und schwoll dann zu einem gewaltigen Gefühl an, das alle seine Sinne und Muskeln mit sich riss. Das erste Mal seit Wochen konnte er richtig lachen. Fast vergessen hatte er, wie es sich anfühlte, wenn sich die Mundwinkel nach oben zogen, die Lippen die Zähne entblößten. Jetzt erst bemerkte er, wie sehr er es vermisste, sich einfach nur zu freuen. Es war das pure Glück darüber, Karl zu sehen. Karl begrüßte ihn als erster seiner Besucher mit einem wirklich ungezwungenen Lachen und er erwähnte mit keinem Wort, wie dünn Marvin
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