Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
Vom Netzwerk:
letztes Mal. Es waren die vielen kleinen Gebärden, die diesmal nicht harmonierten, wie etwa das Scheuen des Augenkontaktes miteinander. Geradezu angestrengt sahen sie aneinander vorbei. Ungewohnt, sie so zu erleben.
»Wie geht es dir denn, Marvin?«
Aus seinen Beobachtungen gerissen, brauchte er eine Weile, um zu sich selbst zu finden. Marvin war es nicht gewöhnt, von Besuch nach seinem Befinden gefragt zu werden. Dann aber beklagte er sich über die immerwährende Übelkeit und die verschlimmerten Kopfschmerzen neuerdings.
»Schuld ist die Chemotherapie!«
Und schuld war auf jeden Fall der Besuch seiner Mutter, doch das sagte er nicht.
Ihn störte, dass Marietta, während er erzählte, Jens immer wieder wegdrückte, wenn er ihr zufällig im Nachvornebeugen näher kam. Und es irritierte Marvin auch, wie Jens zurückpuffte; nicht spaßig, sondern zickig. Sie verhielten sich gereizt, fast abweisend, als ärgerte sie jede Bewegung des anderen.
Marvin fühlte sich wie ein Störenfried, der in ihre Intimsphäre eindrang. Alleine deshalb, weil er ein ungewollter Beobachter ihrer Differenzen war. Er konnte ja wohl kaum den Raum verlassen. Auf einmal wurde ihm auch klar, dass sie ihm nicht zuhörten. Sie waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt – nicht anders, als alle anderen Besucher vor ihnen.
Irgendwann sahen sie ihn erwartungsvoll an, scheinbar verwundert, dass er schwieg. Bestimmt überlegten sie jetzt angestrengt, wie seine letzten Worte lauteten.
Marvin tat so, als hätte er seine Ausführungen beendet.
»Danke, dass ihr mir zugehört habt.«
Er wollte sie testen.
»Aber, das ist doch gern geschehen«, antworteten sie, plötzlich wieder einig.
»Du schaffst das schon!«, fügte Marietta noch hinzu und zwinkerte ihn wohlmeinend an.
Dann stand sie auf, um die Toilette aufzusuchen und noch Zigaretten aus der Cafeteria für den Rückweg zu besorgen. Jens blieb sitzen und sah in die Luft.
»Sie raucht wieder?«, fragte Marvin in die Stille.
Jens seufzte. »Ja, leider! Wie das stinkt, jeden Tag in der Küche!«
Er sah zu Boden und spielte mit den Lippen. Die Krawatte saß ein wenig schief heute. Jens mit schiefer Krawatte zu erleben, war ein wirkliches Ereignis. Schließlich blickte er Marvin in die Augen.
»Ich brauche deinen Rat.«
Marvin lehnte sich ins Kissen zurück und versuchte, sich für die Frage in Fassung zu bringen. Sie schien ihm jetzt schon unbehaglich, obschon er sie noch gar nicht kannte.
»Es geht um meine Beziehung zu Marietta. Ich … wir … haben Probleme. Ernsthafte Probleme! Du warst doch mit Lisa schon mal zu einer Eheberatung. Hat euch das eigentlich was gebracht?«
Eine peinliche Frage, wie befürchtet. Marvin erinnerte sich nur ungern an diese schrecklichen Sitzungen beim Seelenklempner, der ständig unangenehme intime Fragen an ihn gestellt hatte. Nur Lisa zuliebe war er dorthin gegangen. Was es bringen sollte, war ihm damals schleierhaft gewesen, denn nicht er war es gewesen, der ein Problem hatte, sondern Lisa meinte, eins zu haben.
»Ich verstehe das nicht. Ihr habt euch doch bisher so gut verstanden. Was ist passiert?«
Jens biss die Lippen zusammen, sekundenlang, blickte kurz zur Tür, dann platzte er heraus.
»Was soll ich dir sagen, Marvin? Dass wir schon lange nicht mehr das Traumpaar sind, für das uns jeder hält? Dass wir uns verstellt haben?«
Jens stand auf und lief angespannt durch das Zimmer, während er sprach.
»Soll ich dir etwas verraten? Ich hasse sie! Du bist der erste Mensch, dem ich das erzähle. Jedes nette Wort von ihr, jede scheinbar so liebevolle Geste ist ein einziger Vorwurf an mich. Ihre Blicke klagen mich an! Ich könnte sie umbringen! Heute besonders! All das freundliche Getue, nur um den Schein zu wahren! Sie verabscheut mich!«
»Wieso sollte sie dich denn verabscheuen?«
»Es geht schon ewig so. Das muss man doch gemerkt haben, als Freund. Ich hoffte immer, du würdest mich mal darauf ansprechen. Aber stattdessen ist unser Kontakt ja eingeschlafen. Ehrlich gesagt dachte ich, du hättest was gemerkt und wärst deshalb nicht mehr gekommen.«
Marvin wusste nichts zu sagen. Er konnte sich nicht schnell genug umstellen, von der Vorstellung eines sich liebenden Paares zu einem Paar, welches sich hasste.
»Abgrundtief!«, betonte Jens. »Abgrundtief!«, wiederholte er, als sei ein einziges ›Abgrundtief‹ nicht ausreichend.
Marvin dachte an die früheren Treffen mit den beiden. So blind konnte er doch nicht gewesen sein. Ließen sie sich heute nur

Weitere Kostenlose Bücher