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Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Der Tod kann mich nicht mehr überraschen

Titel: Der Tod kann mich nicht mehr überraschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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vergangenen Jahr.«
»Oh.«
Marvin ließ sich wieder zurücksinken.
»Möchten Sie vielleicht ein Bild von ihm sehen?«
Verwundert kam er wieder hoch.
»Sie tragen ein Bild von dem Mann mit sich? Möchten Sie etwa von mir auch ein Bild machen?«
Julian kramte kurz in der Tasche. Zutage brachte er ein schweres lindgrünes Fotoalbum. So eines mit Seidenpapier zwischen den Pappseiten, wie die alten Alben aus Marvins Kindheit. Mit seinen schmalen Fingern blätterte Julian eine Weile herum. Marvin beobachtete ihn skeptisch. Was sollten das denn für Fotos sein?
Plötzlich stellte Julian sein Blättern ein. »Hier ist er ja. Bitte schön.«
Gestützt mit beiden Händen hielt er Marvin das aufgeklappte Album hin. Marvin rückte näher – und erschrak. Auf dem Foto sah er einen Toten, käsig bleich, aufgebahrt in einem ganz normalen Bett, irgendwo in einem privaten Haus mit Fotos an den Wänden, in den gefalteten Händen ein paar Blumen.
»Ein Toter?!«
»Ja – er starb an einem Glioblastom.«
Marvin schauderte, trotzdem sah er noch genauer hin.
»Er sieht ganz friedlich aus.«
»Er starb nach drei Tagen im Koma.«
»Was ist auf den anderen Seiten?«
Der junge Mann blätterte zurück. Auch hier klebte hinter dem Seidenpapier das scharf gestochene Bild einer aufgebahrten Leiche.
»Über was genau schreiben Sie eigentlich in Ihrem Buch?«
»Ich schreibe über sterbende Menschen.«
Marvin starrte ihn an.
»Habe ich Sie richtig verstanden? Sie wollen in Ihrem Buch beschreiben, wie ich sterbe, und dann auch noch ein Foto davon machen? Wer sind Sie? Ein Perverser?« Die Dreistigkeit des jungen Mannes empörte ihn. »Wie alt sind Sie überhaupt? Zwanzig? Zweiundzwanzig? Warum interessiert Sie da der Tod?«
Bedächtig klappte Julian das Album wieder zu und legte es auf Marvins Bettdecke ab.
»Jeder von uns ist im Begriff zu sterben, ohne Ausnahme. Und da es jeden von uns betrifft, warum sollten wir uns nicht schon eher damit auseinandersetzen, als in den letzten paar Stunden vor dem Tod? Täten wir das, würden wir vielleicht anders leben.«
Marvin streckte die Hand aus und wies ihm die Tür.
»Das ist nicht die Art Interview, das ich geben möchte!«
Gefasst steckte Julian seinen Notizblock wieder in die Tasche und stand fast geräuschlos auf.
»Ich verstehe … kein Problem.«
Höflich stellte er den Stuhl zurück. Dann griff er in seine Jackentasche und brachte eine Visitenkarte zutage.
»Falls Sie es sich doch noch anders überlegen. Außerdem sehen wir uns ja Morgen.«
Ohne weitere Umschweife ging er, leise, wie immer.
Sprachlos blieb Marvin sitzen mit Julians Fotoalbum auf seinem Bett. Er hatte es liegen lassen, das Buch mit all den schaurigen Fotos. Natürlich konnte Marvin nicht widerstehen, gerade weil er sich vor den Bildern fürchtete. Es war wie das Gefühl, als wollte er einen besonders schlimmen Gruselfilm ansehen. Neugierig und voyeuristisch griff er danach, begleitet von einer mulmigen Empfindung im Magen. Wie instinktiv schnüffelte er an dem Album und meinte, dass es modrig roch. Vorsichtig, als könnte er mit der kleinsten Erschütterung die Leichen in dem Buch wecken, schlug Marvin die Seiten um. Er entdeckte zahlreiche Fotos, ganze Serien von Bildern einiger Menschen, die diese im Sterben zeigten. Darunter fanden sich erläuternde Kommentare über ihre Namen und dem Stadium ihres Sterbens und über das, was sie noch gesagt hatten. Ein trauriges Buch. Traurig und doch pietätvoll. Tränen liefen Marvin über das Gesicht. Er wischte sie mit dem Ärmel ab. Automatisch stellte er sich seinen eigenen Leib auf den Bildern vor. Wie würde er aussehen? So wie der alte ausgezehrte Mann auf dieser Seite? Blickte der nicht angstvoll in die Kamera? Auf dem folgenden Bild sah derselbe Mann jedoch ruhiger aus, gelassener.
Gedankenversunken blätterte Marvin weiter, kreuz und quer durch das Buch. Vorne fand er ein paar handgeschriebene Eintragungen des Künstlers. Ein Satz berührte ihn besonders.
›Wir alle sind im Begriff zu sterben, das ist nur eine Frage der Zeit. Manche sterben einfach früher, als andere.‹
Darunter stand: ›Ein Zitat von Dudjom Rinpoche‹.
Ja – so war es wohl. Jeder wird sterben und für jeden muss dieser Zeitpunkt irgendwann einmal kommen. Nun war es eben Zeit für Marvin. So einfach war das. Er schlug das Album zu. Wenig später rief er Julian auf Handy an und bat ihn, zurückzukommen.
Julian kam schnell. Er hatte wohl auf diesen Anruf gewartet. Wissbegierig blickte er Marvin an.
»Wie wird er

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