Der Tod meiner Mutter
de Mer gekauft.«
»Ist das der mit der einen Gräte in der Mitte?«
»Das ist ein Fisch, der in 600 Metern Tiefe lebt. Dortist der Druck so groß, der hält den Fisch zusammen, der umschließt ihn praktisch, er braucht keine weiteren Gräten, das macht
alles der Wasserdruck.«
»Der Druck hält ihn zusammen.«
Und ohne Druck?
Stirbt er.
»Deshalb ist das Fleisch auch so zart.«
Ich lehnte mich zurück und fühlte mich seltsam heiter. München zog an mir vorbei, wie ein dunkler Schatten, ein paar Lichter
hinter Glas, Bäume, die meine Mutter nie mehr sehen würde und die schwarz in den Himmel stachen, als wollten sie nach oben,
an die Oberfläche, als würden sie sonst ertrinken. Das Isarufer hinauf, an quadratischen, grauen Häusern vorbei und leeren
Fenstern, durch breite, ausgespülte Straßen. Meine Mutter hätte den Taxifahrer gemocht, dachte ich.
»Da sind wir.«
Ein flaches Haus, eine rote Tür.
»Danke, stimmt so.«
Daniel und Paula saßen rechts neben der kleinen Treppe, die hinunter in das Restaurant führte. Ich küsste Paula auf die Wange
und umarmte Daniel.
»Schorsch!«
Ich drehte mich um und sah einen Mann mit einem kurzen, etwas struppigen Vollbart.
»Stefan.«
Der Mann stand auf und schob seinen Stuhl zur Seite. Er drehte sich halb zu dem Tisch, an dem er mit seinerFrau und seinem Sohn saß, dann drehte er sich wieder zu mir. Es war ein Kollege meiner Mutter, er war einmal ein Freund gewesen,
dann ging das auseinander, die ganz normale Distanz vielleicht, die sich zwischen Menschen einstellt, die eine Weile den gleichen
Weg genommen haben, oder doch die Art meiner Mutter, die in manchen Fällen, und Freundschaften gehörten dazu, eine Maximalistin
war.
Stefans Frau schaute freundlich. Sie war Lehrerin, er war Psychologe, sie hatten sich vor vielen Jahren ein Haus hier in der
Nähe gekauft, das fiel mir jetzt ein, wir waren einmal dort gewesen, als sie gerade eingezogen waren, und meine Mutter hatte
hinterher ein paar spitze Worte gesagt, halb skeptisch war sie wohl, was dieses Einfamilienhaus anging, und auch halb neidisch.
Sie urteilte über Menschen. Und die Menschen spürten das irgendwann und zogen sich zurück. Nur wenige hielten das aus.
»Geht es dir gut?«
Wie sich der Mund bewegt und lächelt und man nicht weint. Weil es schon nicht mehr so schlimm ist?
»Es geht so. Ich war gerade bei meiner Mutter.«
»Ach, und wie geht es ihr?«
»Nicht so gut. Sie ist im Krankenhaus. Sie kommt morgen nach Hause.«
»Wir haben viel an sie gedacht. Sag ihr schöne Grüße und alles Gute.«
»Mache ich. Und noch einen schönen Abend.«
Er drehte sich um, seine Frau nickte mir kurz zu.Wie der Tod etwas Trennendes haben kann: Sie saßen hier und aßen Trüffel, meine Mutter lag dort und hatte wässrige Suppe
gelöffelt. Wie die Lebenden sich gegen den Tod schützen wollen. Wie man ihnen das überhaupt nicht vorwerfen kann.
Und wie der Tod auch etwas Verletzendes haben kann, weil sich Angst und Unsicherheit so weit steigern, dass sie selbst das
Umfeld erfassen, selbst Freunde einbeziehen, in ihnen etwas verstärken, denn die Menschen merken das, die Angst bei anderen,
die sie dann bei sich selbst entdecken, ohne es zu reflektieren, da sind sie fast wie Tiere, instinktgetrieben.
Daniel zum Beispiel, mein engster Freund. Ichhatte ihn nur selten getroffen in diesen letzten Monaten und meistens nur kurz. Einmal immerhin waren wir zusammen essen,
die Sonne schien und wir saßen draußen an einem Tisch im Schatten. Ich kam gerade von meiner Mutter und er fing an zu reden.
Mir war das ganz recht, ich wollte nicht ständig von meiner Mutter sprechen, so wie sie auch nicht ständig von ihrer Krankheit
erzählen wollte, weil sie sich dann fühlte wie jemand, der nur negative Gefühle erzeugte, wie jemand, der sie nicht sein wollte,
leidend, abhängig, störend.
Also hörte ich zu. Ich hatte viel erledigt an diesem Tag, ich hatte meiner Mutter einen Rollstuhl besorgt, ich hatte mich
mit Pflegerinnen und Freundinnen meiner Mutter getroffen, ich hatte ihr in der Apotheke ihre »Astronautennahrung« besorgt,
den Schokodrink, der eine Weile das Einzige war, was sie zu sich nahm. Ich hatte ihren Arzt getroffen. Ich war ein guter Sohn
gewesen. Ich war müde.
Nun saß ich Daniel gegenüber, der auch immer ein guter Sohn sein wollte, was nicht leicht war, vor allem für ihn nicht. Vielleicht
lag es daran, dass er eine Parallele in unseren Leben spürte,
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