Der Tod meiner Mutter
Richard Burton nebenan auf dem Friedhof begraben lag, der vielleicht klug
gewesen war, aber nicht besonders fromm. Sie lernte dort meinen Vater kennen, der so aufgeschlossen war und gewinnend und
gut Englisch sprach, weil er in Amerika studiert hatte, sie gingen zurück nach Deutschland, sie schrieben sich, sie hatte
eine Sehnsucht nach der heilen Familie, die er, so dachte sie, anbieten konnte. Und sie heirateten.
Wie sich eben aus Täuschungen ein Leben formt.
Deutschland in den späten fünfziger Jahren, so sieht das von heute gesehen aus, war ein unfreies Land mitunfreien Menschen, was 1968 ändern sollte. Für Frauen wie meine Mutter war die Emanzipation eine Aufforderung, das eigene
Leben durchzuschütteln. Eine Gelegenheit, Verletzungen zurückzugeben.
Sie zogen nach Nürnberg, wo mein Vater Pfarrer war, so wie sein Vater vor ihm, ein bekannter Mann, der die Innere Mission
in Bayern mitgründete und früh starb. Seine Mutter war eine starke, dominante Frau, die für die CSU im Stadtrat saß. Was meiner
Mutter von außen als heile Familie erschienen war, wurde ihr bald zu eng. Und so zogen sie wieder weg, 1965, in die »Diaspora«,
wie mein Vater das nannte, ins katholische Oberbayern, in eines der Neubaugebiete, die sich wie eine neue wuchernde Stadtmauer
um München legten, nach Oberföhring, wo sie an einer Wohnungstür nach der anderen klingelten und die Gemeindemitglieder mit
Rosen begrüßten. Mein Vater dachte, dass die Ehe noch zu retten sei. Meine Mutter aber hatte sich schon zu weit entfernt.
Familie war etwas, das sie nicht mehr mit Hoffnung, sondern mit Misstrauen betrachtete. Sie mochte den Gedanken immer weniger,
dass Menschen nur deshalb miteinander verbunden sind, weil es die Biologie so will. Sie mochte den Gedanken immer lieber,
dass da Menschen sind, die sich freiwillig entscheiden, die sich gegenseitig gewachsen sind. Sie mochte das Rationale an dieser
Vorstellung. Freie Menschen, die sich verbinden.
Und die sich trennen. Im Sommer 1969 wurde ichgeboren. Mein Vater sang im Kirchenchor, den meine Mutter leitete. Und irgendwann ging er nicht mehr hin. Sie hatten sich
geeinigt, sie hatten sich arrangiert. Es war klar, dass sie sich trennen würden. Aber eine Scheidung war für einen Pfarrer
schon deshalb schwierig, weil die ganze Gemeinde zu Gericht sitzen und entscheiden durfte, ob der Pfarrer im Amt blieb. Und
ein Studium war für eine alleinerziehende Mutter schon deshalb schwierig, weil das Geld knapp war. Also blieben sie erst einmal
zusammen. Sie schliefen im gleichen Bett, sie gingen getrennte Wege, und manchmal trank meine Mutter mittags zwei Gläser Rotwein,
um besser durch den Tag zu kommen.
Sie radelte nach München hinein, wo sie Sozialpädagogik studierte, sie kaufte sich ein Mofa und ein eigenes Auto, einen roten
Fiat 500. Sie studierte mit Menschen, die zehn oder 15 Jahre jünger waren als sie, und sie fuhr zum ersten Mal in ihrem Leben
an die Côte d’Azur. Es gibt ein Foto aus dieser Zeit, da hat sie sehr lange lockige Haare, die sehr rot glänzen, sie sieht
kaum älter aus als all die anderen, die um sie herumsitzen, sie lacht, als könne sie es selbst nicht glauben, wie viel Freiheit
einem das Leben ermöglicht, wenn man sich nur traut.
Schaut man aber genau hin, dann erkennt man, dass da so etwas wie Angst war in ihren Augen oder Skepsis. Bin ich zu weit gegangen,
kann ich wieder zurück? Sie hatte die Brücken hinter sich abgerissen, wie absichtlich, um sich den Rückweg zu verbauen.
Meine Mutter und mein Vater ließen sich scheiden, als ich sechs Jahre alt war. Ich zog mit ihr in ein Hochhaus in der Nähe
der Kirche meines Vaters, bei dem ich ein Zimmer hatte und erst dreimal und später einmal die Woche übernachtete. Hätte sie
noch ein paar Monate gewartet, dann hätte es ein neues Scheidungsrecht gegeben und vieles wäre einfacher gewesen, vor allem
hätte sie mehr Geld bekommen. Aber sie hatte lange genug gewartet. Sie hatte sich entschieden. Sie lernte jetzt, was es heißt,
eine Vorstellung davon zu haben, wie man leben will. Und sie lernte auch, dass das seinen Preis hat.
Also schleppte sie die Umzugskisten einzeln durch die Straßen dieses Neubauviertels. Also suchte sie sich ihre erste Arbeitsstelle,
in einer Obdachlosensiedlung in der Karlsteinstraße im Hasenbergl, sie wollte sich etwas beweisen, sie wollte zeigen, dass
sie das mit der Sozialpädagogik nicht einfach nur so machte, dass sie es
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