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Der Tod meiner Mutter

Der Tod meiner Mutter

Titel: Der Tod meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Diez
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vielleicht hatte es auch einen anderen Grund. Etwas jedenfalls
     ließ ihn reden, Wort um Wort baute sich eine Mauer vor mir auf, Wort um Wort hatte das eine Wucht, Wort um Wort empfand ich
     das immer mehr als Beleidigung. Die Ablenkung, die ich dankbar angenommen hatte, verkehrte sich ins Gegenteil.
    Wer war das, der mir da gegenübersaß? Was wusste er von mir, dass er nicht sah, wie ich nur noch Fassade war, Hülle, Hilflosigkeit?
     Was wusste ich von ihm, dass ich abwartete, ihn weiterreden ließ, als wollte ich ihn testen, als wollte ich den Schmerz beschwören,
     als brauchte ich die Tränen, endlich, öffentlich, Tränen, die ich mir so aufgespart hatte?
    Und als sie dann kamen, da tat es gut, auch weil sie sich gegen Daniel wendeten, weil ich verletzt sein konnte, weil ich jemanden
     hatte, dem ich zeigen konnte, wie es sich anfühlt, wenn etwas immer weitergeht, in seinem Fall die Worte, mit denen er seinen
     persönlichen Sinn bauen wollte, und etwas anderes geht nicht weiter, in diesem Fall das Leben meiner Mutter. Das war die Kluft,
     das war der Abgrund, über den ich täglich balancierte, dachte ich egoistisch – dabei war sie es, war es meine Mutter, die
     mich bitten musste, sie auf die Toilette zubegleiten und vor der Tür zu warten, die stöhnte und jammerte, die sich zusammenriss und leise fragte: »Kannst du mir hochhelfen?«
     Und ich ging hinein und half ihr hoch. Und ich sah nicht hin, wo ich nicht hinsehen wollte.
    Nun war er endlich stumm. Merkwürdig war, dass die Worte mehr und mehr geworden waren, je unsicherer er wurde. Er hatte das
     wohl gar nicht selbst gemerkt. Worte können Ziegelsteine sein, schwer und wund in der Hand.
    »Entschuldigung«, sagte ich, nahm meine Brille ab und putzte sie am Tischtuch sauber, bevor ich mir die Tränen aus dem Gesicht
     wischte.

    Daniel sah an diesem Abend aus wie der große Junge, der er immer sein wird. Paula sah aus wie die Frau, die weiß, was sie
     will, was vielleicht ein wenig täuscht. Daniel saß mit dem Rücken zur Wand, Paula saß an der Längsseite des Tisches, auf der
     Bank, die sich um den Tisch zog. Ich setzte mich auf den Stuhl gegenüber von Daniel und versuchte ein Lächeln.
    »Wie geht es dir?«, fragte Paula, und Daniel schaute, wie ein Freund schauen sollte. Es war keine einfache Zeit für die beiden.
     Aber wenn sich zwei Menschen die Frage stellen, wie sie miteinander leben wollen, bietet das Sterben eines anderen Menschen
     die Chance zu verstehen, wie Leben gelingen könnte.
    Ich erzählte also von meiner Mutter, vom Krankenhaus und davon, wie ich sie gefüttert hatte. Ich erzählte von der Angst, dass
     sie bald sterben könnte, von derSchwangerschaft meiner Frau und dieser verwirrenden Situation, wo Leben und Tod so nah beieinander waren. Ich erzählte von
     dem Taxifahrer und davon, wie beruhigend ich dieses Gespräch gefunden hatte. Und während ich erzählte, spürte ich, wie sehr
     mich die Worte befreiten.
    Daniel und Paula nickten ab und zu und manchmal fragten sie etwas. Irgendwann schwenkte das Gespräch über auf sie, auf ihre
     Situation, auf ihre Zukunft. Und um zu verstehen, was der Tod mit den Lebenden macht, ist dieser Schwenk ganz hilfreich.
    Denn wo vorher Härte war, war nun Weichheit. Wo vorher Verweigerung und Verleugnung waren, war jetzt Verletzlichkeit. Wo vorher
     Selbsttäuschung war, war jetzt ein fast masochistischer Wille zur Wahrheit. Etwas brach auf bei den beiden. Der Tod hatte
     so eine Wucht, dass ihnen die Probleme, die sie hatten, relativ harmlos vorkommen mussten. Der Schrecken, der das Leiden eines
     anderen bedeutete, diese stumme Präsenz am Tisch, das war es, was ihnen den Zugang zu den eigenen Schwierigkeiten leichter
     zu machen schien.
    Nie war meine Mutter so präsent in unseren Gesprächen wie an diesem Abend. Und während wir Gavi di Gavi tranken und Nudeln
     mit Trüffeln aßen, während der Raum um uns verschwand und nur noch die Worte da waren, wurden wir wieder zu Söhnen und Töchtern.
     Es war schön und es war traurig. Und es war ein wenig brutal.
    Der Tod lässt manche Hemmungen weichen, weil erselbst so eine gewaltige Schwelle ist. Daniel und Paula waren nackt an diesem Abend, sie waren verletzlich und sie nutzten
     das aus. Sie waren am Nullpunkt ihrer Ehe. Sie sahen sich als die, die sie nicht sein wollten. Daniel war so ruhig, so schwach,
     so verletzlich; Paula war schonungslos, auch gegen sich selbst. Sie waren so ehrlich, dass sie alles in Frage stellten. Sie
    

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