Der Tod meiner Mutter
hatten im Grunde keine Zukunft, und gerade deshalb hatten sie eine.
Ich weiß nicht, wie lange wir redeten. Wir bestellten Nachtisch, irgendwas mit Schokolade, wir tranken Wein, wir verabschiedeten
uns in dem Wissen, dass sich vieles sehr bald ändern würde. Und dass wir nur ahnen konnten, was das für uns bedeuten würde.
Wir trennten uns vor der Tür. Es war ein kühler Herbstabend, und wie an allen kühlen Herbstabenden war in der Luft ein Ende
zu spüren. Ich wollte mich an diesen Abend erinnern und an dieses Gefühl. Wie an das Gelb der Wand, wie an den Geruch des
Zimmers, wie an das Geräusch der Isar. An das Sterben würde ich mich nur erinnern, wenn ich mich an all das erinnerte, was
um das Sterben herum passierte.
Ich ging durch den dunklen Stadtteil Berg am Laim, auf der breiten Straße in Richtung Innenstadt. Ich schaute mich ab und
zu nach einem Taxi um, nach einem gelben Schimmern im Schwarz der Stadt.
Es kam kein Taxi. Ich fühlte mich einsam und verlassen. Ich fühlte mich erwachsen und geborgen. Ich spürte die Kälte nicht.
Und ich spürte den Wind nicht, der mich von hinten antrieb.
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3
Wie, Krebs?«
Der Telefonhörer schien mir plötzlich leichter, als müsste ich ihn festhalten, damit er nicht fortfliegt.
Ich stand in meiner Wohnung in Berlin, es roch nach Vergangenheit, nach alter, verstockter Kälte. Alles war voll von dieser
Kälte. Und plötzlich auch ich.
»Brustkrebs. Es wird also nichts aus unserer Reise.«
Ich sah die Tage in Paris, das Viertel mit dem Käseladen und dem Fischgeschäft, wo sie mittags schon mit dem Wasserschlauch
alles sauber machten, ich sah das algerische Restaurant, wo es so guten Couscous gab, den meine Mutter nie aß. Ich sah noch
weiter in die Zukunft, aber die Dinge dort konnte ich nicht erkennen. Es blieb ein Gefühl der Leere, auch in meinem Kopf.
»Aber woher weißt du das?«
»Ich war beim Arzt. Was ist das denn für eine Frage?«
Ich wollte etwas sagen. Sie spürte das wohl, denn mit dem nächsten Satz nahm sie die Schärfe zurück, die ihr entglitten war.
»Es tut mir leid.«
»Wie, es tut dir leid? Darum geht es doch nicht. Vergiss Paris. Hauptsache, du wirst wieder gesund.«
»Genau«, sagte sie, »darum geht es jetzt. Ich werde mein Leben ändern.«
Das Verblüffende war, wie konsequent sie das tat. Die Krebsdiagnose im Jahr 1994 war nur ein weiterer Wendepunkt in ihrem
Leben. Und ich glaube, dass sie so lange und so gut mit der Krankheit gelebt hat, weil sie ehrlich genug war, sich dieses
Leben genau anzusehen.
Sie war 58 Jahre alt, sie war Leiterin einer Familienberatungsstelle, sie hatte zwei Jahre zuvor das »Institut für Mediation
und Scheidungsberatung« mitgegründet, sie war fasziniert von der Mediation, mit der man ohne Gerichtsverfahren Konflikte regeln
konnte, sie war eine der Ersten, die in Deutschland mit Mediation arbeiteten. Sie wollte ein Buch darüber schreiben, sie hielt
Vorträge und machte Fortbildungen. Sie hatte einen Sohn, der studierte, eine Wohnung, die sie mochte, und einen Geliebten,
der in einer anderen Stadt lebte und verheiratet war. Sie hatte ein Leben, das sie nun sortierte.
Sie begann zu entscheiden, das will ich, das will ich nicht, und das will ich überhaupt nicht mehr. Etwas, das sie in ihrem
Leben in verschiedenen Phasen, in mehreren Schüben getan hatte. Etwas, das der Rhythmus ihrer Biografie war. Etwas, das sie
nie zu einem einfachen Menschen gemacht hat. »Wir verabschieden uns von einem freien Geist«, hieß es in einem der Nachrufe,
den die Kollegen über sie schrieben, und beiallem Respekt war dabei auch ein wenig Unbehagen zu spüren.
Aber was soll man auch tun. Als Älteste von fünf Geschwistern im Nazi-Deutschland geboren und aufgewachsen. Der Vater prügelte
besonders gern die Töchter, die er mit in den Keller nahm, wo sie sich nackt ausziehen mussten, während er nach oben ging,
um den Rohrstock zu holen. Die Mutter war ehrgeizig und egoistisch und engagierte sich bei der Deutschen Akademikerschaft,
weil sie sich dabei gefiel. Es muss wie ein Kältebad gewesen sein, diese Familie Hövelmann, und meine Mutter flüchtete davor,
erst in die Musik, dann in die Ehe. Sie studierte Anfang der fünfziger Jahre Kirchenmusik und Orgel in Herford, sie ging nach
dem Studium in die Schweiz, um in einem Schloss am Genfer See zu arbeiten, in dem der Weltrat der Kirchen Konferenzen abhielt,
für kluge, fromme junge Menschen, in Bossey, wo
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