Der Tod meiner Mutter
ernst meinte, dass sie nicht mehr die Pfarrfrau war,
die sie nie sein wollte.
Also suchte sie sich ihre zweite Arbeitsstelle, in der Nähe unserer Wohnung, sie musste nur über das Feld radeln, das damals
noch zwischen den Hochhäusern und dem Fußballplatz klaffte, ein Jugendzentrum, das SBZ, was sehr nach siebziger Jahren klingt
und nicht »Sowjetische Besatzungszone« hieß, sondern »Spiel- und Begegnungszentrum«, eine Baracke eher, eine Art Holzhaus,
für die Problemkinder in einem Problemviertel. Ich erinnere mich an Flohmärkte, Anoraks undPlaymobil und Plattenspieler ausgebreitet auf den steinernen Tischtennisplatten hinter dem flachen Haus und auf den Mauern
aus Pressbeton, mit den runden Kieselsteinen darin eingeschlossen, die Mauern, die den neu gesäten Rasen hielten, der sich
zum Spielplatz hin wölbte. Drinnen war es meistens dunkel, und auf den Heizungsöfen saßen Jugendliche, die seltsam unheimlich
schienen und undefiniert übersexualisiert.
In den achtziger Jahren arbeitete sie dann in Schwabing, als Leiterin des Familien-Notrufs, einer Beratungsstelle für Trennung
und Scheidung, die sie mitgegründet hatte. Sie hatte jetzt Keulen in ihrem Arbeitszimmer liegen, die mit Schaumstoff gepolstert
waren und mit denen sich die Leute, die sich trennen wollten, auf den Kopf hauen konnten, was ich mir lustig vorstellte. Sie
kaufte sich schickere Kleider, sie trug nicht mehr lila Latzhosen, sie war nicht mehr alternativ, sie ging mittags meistens
essen. Wir hatten zu Hause lange noch indische Kissen und Buchregale, die aus Bananenkisten gebaut waren, aber meine Mutter
driftete in die Bürgerlichkeit zurück, aus der sie gekommen war.
Irgendwann Ende der achtziger Jahre sagte sie, sie würde für ein paar Wochen nach Amerika fliegen, und als sie zurückkam,
hatte sie für mich einen Schlafanzug von Bloomingdale’s dabei, eine »New York Times« und ein paar Kekse und für sich die Idee,
Mediatorin zu werden. Sie hatte in den USA eine Ausbildung begonnen, die sie die nächsten Jahre über fortsetzte. Sie war eine
der Ersten, sie musste Widerstände überwinden, weilTherapeuten und Rechtsanwälte misstrauisch waren, ob ihnen da jemand etwas wegnehmen wollte, sie suchte diese Konflikte,
sie war fast stolz darauf.
Wir wohnten damals immer noch in der Nähe meines Vaters, in einer etwas größeren Wohnung in Oberföhring. Ich sah ihn regelmäßig
und fuhr mit ihm in die Ferien nach Istrien, Irland oder Südtirol. Ich ging zum Skifahren und zum Surfen, obwohl meine Mutternicht viel Geld hatte. Ich war ein Jahr als Austauschschüler in Amerika, und als wir an Weihnachten telefonierten, weinte
meine Mutter nicht und ich auch nicht. Wir hatten, dachte ich, eine fast perfekte Scheidungsbeziehung. Wir waren oft im Englischen
Garten, im Winter machten wir Langlauf, im Sommer Picknick. Sie zeigte mir, wie man kocht und Hemden bügelt. Das Wichtigste
war, fand sie, dass jeder von uns seine Unabhängigkeit behielt. Sie hatte, auch aus Rücksicht auf mich, keine längeren Männerbeziehungen
in dieser Zeit. Nur zwei Freunde, die manchmal bei uns schliefen, einen Türken und einen trinkfesten Kollegen, mit denen ich
mich in der Früh prügelte, halb im Spaß und halb im Ernst. Und einen Geliebten, von dem ich erst später erfuhr.
Ich kann mich an wenig erinnern aus der Zeit vor der Scheidung und auch an wenig aus den Jahren direkt danach. Ich kann mich
nicht erinnern, dass ich in der einzigen Therapiesitzung meines Lebens mit sieben Jahren kein Wort sagte auf all die Fragen
des Therapeuten, aber als meine Mutter und ich danach gemeinsam die Treppe hinuntergingen, erzählte mir meine Mutter später,
tat ich so, als sei nichts gewesen. Und ich kann mich auch nicht erinnern, dass ich mit 14 die Männer, die sie kannte, nur
die »Schlaffis aus der Psycho-Szene« nannte.
Ein paar Monate, nachdem meine Mutter aus den USA wiedergekommen war, zog sie aus unserer gemeinsamen Wohnung aus, etwa zu
der Zeit meines Abiturs, im Frühsommer 1990. Es freute sie immer wieder, wenn sie davon erzählen konnte. Sie war ausgezogen
und nicht ich.
Und so hatte sie gelernt, Schritte zu gehen, die für sie stimmten, die für sie richtig waren, die konsequent waren und die
manchen wehtaten, manchmal auch ihr selbst, vielleicht mehr, als sie zeigte. Aber sie wusste, dass alles andere falsch war.
Sie sah die Krankheit als einen weiteren neuen Abschnitt in ihrem Leben, und sie wollte auch
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