Der Tod meiner Mutter
Grund dieses Menschen blickte. Sie täuschte sich in ihm, vielleicht wollte sie sich täuschen. Nie würde
er seine Familie verlassen, nie das Haus, in dem sie wohnten, nie die Kinder. Wollte sie das nicht sehen? Oder wollte sie
keinen Geliebten, der irgendwann einmal mit einem Koffer vor der Tür stehen würde?
Es schien, als ob sie etwas änderte, als sie wirklich krank wurde und merkte, dass es gut wäre, jemanden zu haben gegen die
Einsamkeit, jemanden, auf den sie sich verlassen konnte. Und als sie einsah, dass es zu spät dafür war, richtete sie die Enttäuschung
darüber genauso gegen sich selbst wie gegen den Mann, den sie einmal geliebt hatte. Wir haben uns ein paar Mal gesehen, der
Mann und ich, und wir taten so, als wüssten wir von nichts. Wir schlichen umeinander herum, wir redeten dies und das, er wusste,
dass ich wusste, dass inzwischen auch seine Frau und seine Kinder davon wussten, aber wir sagten nichts. Zwei Feiglinge.
Als er mich doch einmal fragte, wie es meiner Mutter ging, und ich ihm sagte, dass es ihr sehr schlecht ging, da fühlte sich
dieser Satz gut an, weil ich dachte, dass er ihm wehtut. Ich glaube, er dachte, er sei schuldig. Ich jedenfalls dachte, dass
er eine Schuld hat. Er hatte sie alleine gelassen. Hatte er sie wirklich alleine gelassen?
Über dem Tisch meiner Mutter hing all die Jahre ein Bild von Janosch, eine Zeichnung, auf der ein Pferd zu sehen war, das
allein durch die Gegend galoppiert. Auf dem Pferd sind ein Mann und eine Frau zu sehen, sie sind nackt, die Frau hat rote
Haare. Die beiden sitzenallerdings nicht auf dem Pferd, sie stehen kopfüber auf dem Rücken des Pferdes. Meine Mutter hatte das Bild irgendwann in
den achtziger Jahren gekauft, für ein paar hundert Mark, sie war aufgeregt und stolz, so viel Geld auszugeben für ein Bild.
Wir holten es gemeinsam ab in einer Galerie in der Nähe des Viktualienmarktes, und sie trug es in Plastikfolie eingewickelt
unter dem Arm. Ich ahnte, dass dieses Bild für meine Mutter mehr war als ein Bild.
Sie hängte es zuerst in unsere Wohnung, direkt über das Spinett. Dann hängte sie es in ihre Wohnung in dem Hochhaus, gleich
in den Eingang. Dann hängte sie es in ihre Wohnung in der Jahnstraße, über den Tisch, hinter den Stuhl, auf dem sie jeden
Tag saß. Sie sah es nicht, es war hinter ihrem Rücken. Aber irgendwann, nach all den Jahren, betrachtete meine Mutter das
Bild einmal genauer – und merkte, dass sie es verkehrt herum aufgehängt hatte, die ganze Zeit, all die Jahre. Es hing so,
dass der nackte Mann und die nackte Frau in der Manege standen, und auf ihrem Kopf trugen sie ein Pferd, das verkehrt herum
lief. Meine Mutter drehte das Bild um, jetzt war es wieder das Pferd, das die beiden Liebenden auf dem Rücken trug, sie standen
auf dem Kopf, und die Frau hatte immer noch rote Haare.
Ein paar Wochen vor dem Tod meiner Mutter fiel das Bild herunter. Sie hängte es wieder auf. Der Rahmen war an einer Ecke etwas
gesprungen, sonst war nichts passiert.
»Hier«, sagte ich, »hier kommt man rein. Das ist der Flur. Und das ist dann mein Arbeitszimmer. Und so sieht es auf der Straße
vor dem Haus aus. Toll, oder?«
Sie sah sich das letzte Foto länger an, als es sein musste, dann schaute sie mir in die Augen, und ich erkannte, dass es sie
freute. Dass sie die Idee mochte. Ihr Sohn würde sich eine Wohnung kaufen. Wer hätte das gedacht?
Ich hatte den Laptop dabei, um ihr die Fotos zu zeigen, die ich in Berlin gemacht hatte, große Räume mit Parkett und Glastüren,
durch die das Sonnenlicht fiel. Wir saßen auf ihrer Terrasse, sie war in eine Decke gehüllt, obwohl es nicht kalt war, es
war später Frühling, Mai 2006, und die Wohnung, um die es ging, würde sie nie mehr sehen, das wusste sie.
Als ich ihr das erste Mal davon erzählt hatte, war sie freundlich interessiert gewesen; jetzt war sie freundlich enthusiastisch.
Sie sagte, wir sollten auf jeden Fall diese Wohnung kaufen, sie würde uns Geld dazugeben. Es war ihr Stolz, dass sie sich
das leisten konnte. Das Geld war ihres, das Leben war unseres.
Sie selbst hätte wohl nie damit gerechnet, dass Geld einmal eine Bedeutung haben könnte für sie, dass damit eine emotionale
Botschaft verbunden sein könnte, dass es ein Grund sein könnte für Hoffnung. Sie selbst hätte nie daran gedacht, sich eine
Wohnung zu kaufen, und das war dann auch ihre erste Reaktion, sie sagte: »Ist das nicht eine zu große
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