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Der Tod meiner Mutter

Der Tod meiner Mutter

Titel: Der Tod meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Diez
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diesen Mann wirklich gesehen?«
    »Glaubst du mir nicht?«
    Wie sie das sagte, klang es so, als würde eine Saite zerreißen. Ich schloss die Augen und versuchte, mich zu konzentrieren.
     Die Straße, an der ich saß, war laut. München war weit weg. Und meine Mutter auch.
    »Und dann?«
    »Dann habe ich noch lange auf der Terrasse gewartet. Es war so kalt, ich habe fürchterlich gefroren.«
    »Aber warum bist du nicht wieder reingegangen?«
    »Da war doch der Mann, irgendwo war er noch.«
    Als ich später ihren Nachbarn anrief, erzählte er mir, meine Mutter sei um zwei Uhr früh auf seiner Terrasse gestanden, er
     sei herausgekommen und habe sie in ihre Wohnung begleitet und sei bei ihr geblieben, bis sie eingeschlafen war.
    Ich steckte mein Handy ein und schaute hinüber zu der hohen Ziegelmauer. Dahinter war der Friedhof, auf dem Heiner Müller
     und Bertolt Brecht lagen und viele andere, Hegel zum Beispiel und Bonhoeffer, in schattigen Gräbern. Der Dorotheenstädtische
     Friedhof, mit seinen Kieswegen, heller Kies, ich war hier oft im Juni und auch im Juli, weil ich ein paar Häuser weiter arbeitete,
     bei einer Zeitschrift, die jung war und schick, und wenn ich mit meiner Mutter telefonierte, ging ich aufdie Straße und meistens hinüber zum Friedhof und setzte mich in den Schatten und starrte auf den Kies oder in die Bäume,
     durch die das Sonnenlicht drang, und hörte ihr zu und versuchte, nicht wütend zu werden, denn ich hatte keinen Grund dafür.
     Es dauerte etwas, bis ich das verstand.
    Sie wollte mit ihrer Angst nicht allein sein in dieser Zeit. Sie rief jeden Tag drei oder vier Mal an, was sie sonst nie getan
     hatte. Sie vergaß manchmal, dass wir gerade telefoniert hatten, manchmal hatte sie es auch nicht vergessen und fühlte sich
     nur allein und schwach, und ich dachte, sie hätte es vergessen, deshalb war ich grob und ungeduldig, bis ich merkte, dass
     sie in diesem Moment gar nicht so verwirrt war, wie ich dachte. Und wenn wir das nächste Mal telefonierten, dann dauerte es
     wieder eine Weile, bis ich verstand, dass sie mich gerade fragte, wofür der grüne Knopf auf dem Telefon gut war, und auch
     der Wecker machte merkwürdige Geräusche. Alles konnte zum Feind werden.
    »Ich kann nicht mehr telefonieren.«
    »Aber wir telefonieren doch gerade.«
    »Weil du mich angerufen hast.«
    »Aber Mami, du hast mich angerufen.«
    »Ach, geh.«
    »Glaubst du, ich hätte dich angerufen?«
    »Natürlich, hältst du mich für bescheuert?«
    »Nein. Ich glaube nur, dass dein Telefon wieder geht. Probier es doch noch einmal aus.«
    Ich wartete eine Viertelstunde auf ihren Anruf;schließlich wählte ich ihre Nummer, aber es war belegt.
    Es gab eine Weile ein technisches Problem mit ihrem Telefon, was ich ihr nicht gleich glaubte; es gab nicht immer ein Problem
     mit ihrem Telefon, wenn sie das dachte. Es veränderte sich etwas in diesem Sommer bei meiner Mutter, es war nicht nur die
     Paranoia, es war mehr als nur Unsicherheit, es war eine tiefe Verwirrung, die sie manchmal regelrecht wegzog, die sie in Bewusstseinslücken
     stürzen ließ, unerreichbar lag sie dann dort, das Telefon am Ohr, die Welt so weit weg, nur ihr Körper war nah, und der zerfraß
     sie von innen.
    Es war fast so, als ob sich ihr Wesen wie unter Druck veränderte in diesem heißen Sommer 2006, als ob es Kräfte gab, die von
     oben und unten auf sie einwirkten, und ihr Wesen, das dazwischen eingeklemmt war, wurde zusammengepresst und auf das reduziert,
     was in diesem Zustand noch möglich war. Ich weiß nicht, ob sie es anfangs merkte, wenn sie sich von der Welt entfernte und
     in ihren eigenen Kosmos entschwand. Aber wenn sie wieder zurückkam, und sie kam zurück, nach ein paar Stunden, nach einigen
     Tagen, dann wusste sie nicht, wo sie gewesen war.
    Sie war eine andere, sie war die Gleiche, sie war vielleicht mehr sie selbst, als mir lieb war. Am Anfang war ich nur wütend.
     Vielleicht meinte ich gar nicht sie, vielleicht war ich nur wütend auf ihre Krankheit. Oderwütend auf mich, weil ich nicht mehr tun konnte. Oder wütend auf die Sonne, weil sie so hell schien. Oder nicht hell genug.
    »Da ist eine Rechnung, du musst dich bitte darum kümmern, es geht um ein Sitzkissen für den Stuhl auf der Terrasse, aber das
     habe ich gar nicht bestellt. Und wenn ich nicht bis morgen zahle, dann –«
    »Ja, was dann?!«
    »Ich weiß auch nicht. Kannst du mir helfen, bitte?«
    »Soll ich bei dem Laden anrufen?«
    »Das wäre

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