Der Tod meiner Mutter
Probleme, weil das Gebäude mit Asbest verseucht war.
Gegenüber lag das Haus des Christopherus Hospiz Vereins. Meine Mutter hatte ihre Meinung geändert. Sie hatte nie mehr von
Dignitas gesprochen und auch nicht von Sterbehilfe. Sie hatte eine Freundin, die ihr von der Hospizbewegung erzählt hatte
und davon, was deren Motto »Leben bis zuletzt« bedeutete. Sie hatte sich ein paar Mal mit den Frauen getroffen, die sich hier
um die Sterbebegleitung kümmerten, wie das hieß. Sie hatte deren pragmatische Art gemocht. Sie hatte gemocht, dass die Frauen
nicht von Kirche oder Glauben sprachen, sondern von Mittagessen und Nachtwache. Sie hatte gemocht, dass es ums Leben ging
und nicht um den Tod.
Der Eingang hatte eine Glastür, die sich automatisch öffnete. Ich lief die Treppe hinauf in den ersten Stock und einen Gang
entlang, ein Gang wie in einer Versicherung, nicht wie in einem Krankenhaus, ein Gang wie in diesen Orten, in denen sie das
Leben regeln und auch das Sterben. Das Zimmer lag auf der rechten Seite und die Frau, mit der ich schon einige Male telefoniert
hatte, stand von ihrem Schreibtisch auf und war auf eine Art und Weise dick, die mir Vertrauen gab. Am Telefon war es nicht
immer einfach gewesen, den richtigen Ton zu treffen; hier saß nun eine Frau, für die der Tod etwas fast Handwerkliches hatte,
für die der Tod eine Frage der Organisation war.
»Wie geht es Ihnen denn?«, fragte die Frau, und weil das etwas war, was mich in den letzten Wochen niemand gefragt hatte,
brachte mich das fast zum Weinen.
Ich weinte nicht. Aber der Tod bekam an diesem Vormittag im Frühsommer 2006 eine ganz eigene, eine konkrete Realität.
»Haben Sie noch mal mit Ihrer Mutter gesprochen?«
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5
Ich habe den Mann, den meine Mutter einmal geliebt hat, zuletzt vor etwa zwei Jahren gesehen. Er ist klein, kleiner jedenfalls,
als es meine Mutter war, er ist etwas dicklich, er hat kaum noch Haare und trägt den Kopf gesenkt, als ob er sich gegen den
Wind stemmen müsste. Er hat meistens ein Lächeln im Gesicht, er scheint die Welt, so wie sie ist, nicht wirklich ernst zu
nehmen, was meiner Mutter sicher gefallen hat. Seine Augen sind wässrig, er schaut etwas betrunken aus, selbst wenn er nüchtern
ist, und in seinem Blick liegt eine Müdigkeit, die er nur manchmal niederringt. Dann flackert es in seinen Augen und ein anderer
Mann scheint möglich, der ein anderes Leben geführt hätte, eines mit meiner Mutter.
Sie kannten sich schon lange, bevor sie ein Verhältnis hatten, das viele Jahre dauerte und erst spät entdeckt wurde. Er war
verheiratet, meine Mutter kannte seine Frau, kannte sie sogar gut, auch wenn sie sich nun nie mehr sahen. Es begann Mitte
der achtziger Jahre, und als mir meine Mutter davon erzählte, viele Jahre danach, da war es mir unangenehm, da wollte ich
mir nicht vorstellen, was sie füreinander waren, es war mirkörperlich unwohl, weil die Erotik der Eltern etwas ist, das Kinder verschlossen bleibt. Sie teilten die Musik, es machte
meiner Mutter Spaß, ihm Restaurants und Museen zu zeigen und ein anderes Leben voller Genuss. Er hatte viel Geld und nie gelernt,
wie man es ausgibt; sie hatte wenig Geld und wusste sehr gut, was man mit Geld alles machen kann.
Sie waren selten zusammen fort, sie verreisten nie zusammen, sie sahen sich immer nur kurz und meistens in Hotels, und wenn
das am Anfang noch aufregend war, so wurde es mit der Zeit immer schaler und erniedrigender. Meine Mutter fühlte sich benutzt,
sie wünschte sich, dass sie diesen Mann retten könnte aus seiner falschen, verlogenen Ehe, so sah sie das, sie wünschte es
sich aus ganz egoistischen Gründen, denn wenn sie ans Alter dachte, dann konnte sie sich sogar vorstellen, es mit diesem Mann
zu verbringen.
»Wie konnte ich glauben, dass er je seine Frau verlassen würde«, das sagte sie später, und es tat ihr fast körperlich weh,
auch weil dieser Satz so ein Klischee war. Sie war selbst wohl am meisten überrascht, dass sie so lange an diesem Mann festgehalten
hatte. Ihre Liebe verlief in Wellen, sie beendete die Affäre ein oder zwei oder drei Mal, das erste Mal kurz nachdem sie 1994
erfahren hatte, dass sie Krebs hat. Sie wollte damals alles loswerden, was sie belastete, was ihr Kraft raubte und nicht schenkte.
Aber sie ging doch wieder zurück.
Der Sex war gut, sagte sie einmal. Ich wollte diesen Satz nicht hören. Ich war vielmehr überrascht, wiewenig sie auf den
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