Der Tod meiner Mutter
sie irgendwann, »70 ist doch gar nicht so alt.«
Wir waren zu dritt im Tantris, das war mein eigentliches Geburtstagsgeschenk, ein Essen in dem Restaurant, das sie so mochte.
Aber irgendetwas war anders,irgendetwas stimmte nicht. Erst rauchte jemand in unserer Nähe; dann war das Essen nicht so, wie sie es sich vorgestellt
hatte; und schließlich verloren wir uns in einem Gespräch, das ich auch nicht mehr zu steuern wusste. Am meisten Spaß machte
es ihr wohl, als der Fahrer des Tantris uns in einer großen schwarzen Limousine nach Hause brachte.
Wir brachten sie noch bis an die Tür. Ich küsste sie auf ihre kühle Wange und sie hielt sich dabei sanft an meiner Schulter
fest. »Im Auto war es«, sagte sie und lächelte erstaunt, »als ob wir schwebten.«
Am 24. April 2006 brachte sich der Bruder meiner Mutter um. Hartmut, der zweitjüngste, der wegen Depressionen in Behandlung
war, der sich weigerte, über diese Depressionen zu sprechen, der gerade erst nach Hause geschickt worden war, weil sie ihn,
so sagten die Ärzte in der Klinik, nicht therapieren konnten. Er weigerte sich, seine Krankheit zu erkennen. Er erhängte sich
in seinem Badezimmer.
Wenn meine Mutter geschockt war, dann zeigte sie es nicht. Sie war bestürzt, sie war auch persönlich getroffen, es war wie
ein Omen, das sie auf sich bezog, es war wieder etwas, das ihr nicht Kraft gab, sondern Kraft nahm, in dieser Zeit, als vieles
schon so schwierig wurde. Aber geschockt oder überrascht schien sie nicht. Sie hatte ihn gemocht, sie hatten früher viel miteinander
telefoniert, eine Weile war er ihr am nächsten gewesen von all ihren Geschwistern, zu denen sie immer einegewisse Distanz hielt. Aber wir hatten ihn nicht oft besucht, ich sah seine Kinder nie, wir waren nie zusammen in den Ferien,
und als er sich scheiden ließ und mit einer anderen Frau drei Kinder kriegte und aufs Land zog und meine Großmutter zu sich
nahm und mehr und mehr verschwand, da schien es mir nicht, als ob meine Mutter ihn wirklich vermisste. Er war schon fort,
bevor er weg war.
Nach seinem Selbstmord war es dann, als ob meiner Mutter ein Baustein fehlte, als ob es ein emotionales Defizit gab, das verhinderte,
dass Schmerz ihr zu nah kam. Schmerz zumindest, der mit ihrer Familie zu tun hatte. Auch ich habe über diesen Tod nicht lange
nachgedacht.
Drei Tage später schrieb sie »HG hier (schwierig)« in ihren Kalender. Ich kann mich an diesen Tag nicht genau erinnern, drei
Tage nach dem Selbstmord meines Onkels, an dem sie mich oder meinen Besuch schwierig fand. Aber vieles von dem, was die nächsten
Wochen und Monate so anstrengend und auszehrend machen würde, ihre Unsicherheit und Angst, die sich zu einem Misstrauen steigerten,
das sie fast blockierte, vieles kündigte sich damals schon an. Auch meine Ungeduld, meine Angst, die sich mit ihrem Misstrauen
nur schlecht vertrug.
Wenn ich meinen Kalender aus dem Jahr 2006 durchblättere, dann ist der voller Einträge wie »2.1. Corinna Aachen; 3.1. Fax
Vater, DSL, DB, Sophienstraße, Hamburg; 4.1. 11 Uhr Menasse Café Einstein, 12.30Augstein Borchardt; 5.1. HH-NYC 13.40 Uhr–18.50 Uhr, Hotel on Rivington; 6.1. Harry Frankfurt Lunch 13 Uhr, Andrian!, 18
Uhr McNally, 20 Uhr Catherine, später Hilton«. Und so weiter, und so weiter. Meine Frau inszenierte in Aachen Anfang des Jahres
eine Oper, ich war zwei oder drei Mal die Woche in der Redaktion in Hamburg, war in New York, war mit meiner Frau den Februar
über in Paris, weil sie dort arbeitete, ich flog nach Mailand zum Spiel AC Milan gegen FC Bayern, war in Leipzig, Hannover
und Bonn, flog Ende März eine Woche nach Shanghai und war, wenn sich der Kalender nicht täuscht, am 26. April das erste Mal
in diesem Jahr in München, drei Tage lang, weil ich wegen der Fußball-WM einen Artikel über die Allianz-Arena schreiben sollte.
»Die Arena passt gerade deshalb so gut nach München«, schrieb ich, »weil sie dem herrschenden Hedonismus dieser Stadt Gestalt
gibt. Noch in den siebziger Jahren, als ich mit meiner Mutter auf der Autobahn zu Ikea nach Eching fuhr, waren dort, wo jetzt
das Stadion steht, Wohnwagen zu erkennen und auch ein paar Baracken, in denen, das sagte meine Mutter immer mit linksliberalem
Respekt, ›die Sinti und Roma‹ lebten. Der Wind wehte damals manchmal etwas von dem Geruch herüber, der von dem Berg kam, der
heute sympathisch begrünt auf der anderen Seite der Autobahn steht, gegenüber der
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