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Der Tod meiner Mutter

Der Tod meiner Mutter

Titel: Der Tod meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Diez
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Rücken zubinden konnte. Ein Paar dünne Beine stachen unter dem Kittel hervor, der knapp unterhalb der Scham endete.
     Immer wenn ich daran vorbeiging, schaute ich erst weg, dann schaute ich hin, dann schaute ich wieder weg.
    »Wer bist du?«
    Es war, als habe diese Puppe mir etwas Kraft geraubt, sie zog und zerrte noch an mir, als ich schon lange weiter war. Ich
     kann mich an so vieles nicht erinnern aus diesen letzten Wochen. Es ist ein Loch, in das ich schaue, und das Loch bin ich.
     Ich sehe, wenn ich will, das Kind, das ich einmal war, ich sehe meine Mutter, aber nicht in dieser Zeit, es schieben sich
     andere Bilder vor das Bild von meiner Mutter in ihrem Bett, es sind die Bilder, die ich sehen will. Es gibt, sagt man, die
     Schuld der Überlebenden, die Schuld, die diese spüren, nur deshalb, weil sie noch da sind. Sie machen sich Vorwürfe, die Überlebenden,
     sagt man, sie denken, sie hätten versagt, vor dem Menschen, der gestorben ist, und vor allem vor dem Menschen, der sie selbst
     sein wollen. Ich würde nicht von Schuld sprechen. Ich frage mich nur, was ich hätte anders machen können. Und warum jeder
     Mensch so allein ist. Die Schuld dient denen, die überlebt haben. Weil sie damit etwas fühlen. Weil ihnen damit etwas bleibt.
    »Bis bald dann –«
    Es wurde langsam kühler. Eine neue Jahreszeitbegann. Ich musste noch die Architektin anrufen. Ich musste das Auto aus der Werkstatt holen. Ich musste in der Apotheke
     anrufen wegen der Medikamente für meine Mutter und den Tischler wegen eines Termins. Ich musste meiner Frau die Hand auf den
     warmen Bauch legen, wenn wir einschliefen. Ich musste morgen früh aufstehen, um nach München zu fliegen oder nach Hamburg
     zu fahren oder Tennis zu spielen.
    Ich ging hinein.
    Die Zeit, die verstrich, war in diesem Sommer wie Luft, die mich trug.

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    7
    Ich lag auf dem Sofa und hörte ihren Atem. Ich saß an meinem Schreibtisch und starrte auf die Autos. Ich wartete am Flughafen
     und schwitzte. Ich saß im Taxi und telefonierte mit meiner Frau. Ich saß im Büro und schrieb. Ich ging ins Bett und schlief.
     Ich flog nach München und blieb zwei Tage. Ich stand auf und sah, dass sie schlief. Ich stand da und schaute auf sie herunter.
     Ich stand neben ihr und hielt ihre Hand. Ich schloss die Tür und wusste nicht, ob sie noch da sein würde, das nächste Mal.
     Ich ging durch den Hof, und der Himmel war blau. Ich überquerte die Straße und merkte es kaum. Ich traf Menschen, und das
     war gut. Ich redete, auch wenn es nicht ging. Ich hörte zu, bis sie nichts mehr sagte. Ich wartete, und sie wartete auch.
     Ich ging hierhin und dorthin, und als ich wieder da war, schlief sie nicht. Ich sah, dass sie dünner wurde, und sagte nichts.
     Ich sah, dass sie schwächer wurde, und sagte nichts. Ich holte eine Flasche Wasser aus der Küche, obwohl sie noch genug im
     Glas hatte. Ich schob ihr den Teller etwas näher hin und hoffte, dass sie das nicht merkte. Ich fragte sie, ob sie nicht noch
     etwas essen wollte, und schaute ihr in die Augen. Ich stellte mich neben sie und fasste sie leichtan den Ellenbogen an. Ich machte ein paar Schritte, und sie machte auch ein paar Schritte. Ich hielt ihre Hand, weil sie
     das zuließ. Sie atmete. Ich lag auf dem Sofa und sie lag in ihrem Zimmer und die Tür stand offen und ich konnte nicht schlafen.
     Ich lag auf dem Sofa und das Sofa quietschte und niemand sonst war da, es gab nur sie und mich, wir atmeten, das war die einzige
     Wahrheit in diesem Augenblick. Ich wusste, dass wir schweigen würden, selbst wenn wir redeten, bis zuletzt.
    »Heiner Schorsch.«
    Ich lag auf dem Sofa und hörte meinen Atem. Das Sofa machte Geräusche, wenn ich mich bewegte, es war, als würde es reden.
     Ich hörte auf ihren Atem und hörte auf meinen Atem und dämmerte langsam weg und schreckte wieder hoch. Ich musste da sein,
     weil niemand sonst da war, und ich sah sie vor mir, wie sie sich mit den Ellenbogen aufstützte und hochstemmte, wie sie die
     Beine drehte, sich am Bettgestell festhielt, nach den Schuhen unter dem Bett suchte, die Füße im Nichts, der erste Schritt,
     der Nachttisch, die Tür, davor das Wohnzimmer, noch eine Tür, der Flur, noch eine Tür, das Bad, so weit, alles so weit, ich
     sah, wie sie stürzte, so wie sie schon einmal gestürzt war, sie hatte einen Bluterguss gehabt, der mir vielleicht mehr wehtat
     als ihr, weil es ein Zeichen war, dass es nicht mehr ging, dass sie nicht mehr allein sein konnte, jemand

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