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Der Tod meiner Mutter

Der Tod meiner Mutter

Titel: Der Tod meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Diez
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und sah riesige grüne Hüpfbälle, die auf mich zuflogen und mich
     unter sich begruben.
    Ich war eingeschlafen.
    In ein paar Tagen würden wir nach München fahren, ich hatte den Flug schon gebucht, meine Frau und ich würden meine Mutter
     ein letztes Mal gemeinsam sehen, es war der Besuch, den wir so lange hinausgeschoben hatten, und auch das Kind wäre dabei,
     in dem Bauch, der so rund war.
    An dem Abend hatten wir ein paar Leute zum Essen in die neue Wohnung eingeladen, es war ein Abschiedsessen für einen guten
     Freund, der nach New York zog.
    In dieser Nacht bekam meine Mutter Fieber.
    Aber Doktor Koschine hatte doch gesagt.
    Machen Sie sich keine Sorgen.
    Einatmen, ausatmen.

    Selbst der Tod verläuft nicht linear. Er umkreist die Menschen, die er damit noch einmal vereint, ein letztes Mal, und die
     sich winden, die hoffen, die atmen, die aufgeben und weitermachen.
    Ich saß in unserer Wohnung in Berlin und schaute auf die Lichter der Autos, meine Frau war in Frankfurt und war schwanger,
     meine Mutter war in München und starb, und alles schien still, weil sich alles so schnell drehte. DieAutos vor dem Fenster waren ein Strom, der ständig durch mich hindurchging. Die Sonne versank vor meinem Fenster. Es war
     ein Drama, das begriff ich, es war die äußere Form, nach der ich suchte, weil ich die innere Form noch nicht gefunden hatte.
    Dieses Gesicht, das doch nicht fehlen darf. Diese Haut, die ich berühren will. Diese Hand, die sich streckt.
    Wo?
    Auf dem Tisch neben ihrem Bett stand ein Wecker und zur Sicherheit stand da noch ein Wecker. All die Tabletten, in kleinen
     Dosen, und die Taschentücher, vier oder fünf Packungen, und die Gläser, aus denen das Wasser verschwunden war, und übrig blieb
     nur der Rand, ein grauer, gelblicher Rand, Ablagerung, ein Rest. Die Schüssel mit Stiften, lauter rote Stifte, und die Zettel,
     auf die sie schrieb, was sie nicht vergessen wollte, in geraden und später in schiefen Buchstaben, Buchstaben, die immer panischer
     wurden, je länger es dauerte, je mehr sie schwand.
    Sie verlor sich von innen, glaube ich. »Innen achten«, stand auf einem der Zettel. Und daneben: »was ist innen?«
    Nur das, was außen war, konnte ich sehen, konnte ich behalten.
    Neben ihrem Kopfkissen lag ein kleiner Karton, in dem sie ihren Kalender aufbewahrte und noch mehr Zettel und ihr Adressbuch
     und noch mehr Stifte; und mindestens eine Brille lag da, eine der Lesebrillen, die sie in der ganzen Wohnung verteilt hatte,
     auf dem Esstisch lagen drei oder vier, in der Küche, auf demGeschirrschrank, neben ihr, in Reichweite, insgesamt hatte sie 17 Lesebrillen.
    Sie wollte sehen, sie wollte genau sehen, je mehr es verschwamm.
    Unter ihrem Kopfkissen lag die schwarze Tasche, die sie sich um den Hals hängte, wann immer sie aufstand, die sie mitnahm,
     wann immer sie die Wohnung verließ, 1000 Euro waren darin, Taschentücher und ein Labello und ihre EC-Karte, ihr Führerschein
     und ihr Personalausweis.
    Als könnte die Reise jederzeit losgehen.

    Die Angst, so schien es, hatte sich verselbstständigt. Manchmal sagte sie, dass sie sich fürchtete, vor einem Sturz, vor Schmerzen,
     vor dem, was sie nicht kannte, weil sie nicht wusste, was danach kam. »Würde ich an Gott glauben«, sagte sie, »wäre es natürlich
     einfacher.«
    Aber so.
    Sie war wund und wehrlos wie ein Kind in solchen Momenten, sie strich fast etwas verlegen mit der Hand auf dem Tisch herum,
     sie wischte einen Krümel fort, den nur sie sah. Sie hielt inne, die Hand ruhte auf dem Holz, sie spürte das Holz, ich spürte
     das Holz, das sie spürte, es war da, also war auch sie noch da.
    Aber sie war sich nicht mehr sicher. Sie musste das jeden Tag neu herausfinden. Also sammelte sie Beweise.
    »Aufschreiben als Beweismittel« stand auf dem Blatt, das auf ihrem Schreibtisch lag, eines der wenigen Dinge,die ich mitgenommen habe nach ihrem Tod. Ich habe mir in der Zeit bis zu ihrem Tod keine Notizen gemacht, habe nichts aufgeschrieben,
     obwohl ich das wollte, dann wollte ich es wieder nicht, es schien falsch, warum eigentlich?
    Das Blatt ist eng mit roter Schrift bedeckt, es sind zwölf Punkte, die sie notiert hat, in klarer Schrift. Ich weiß nicht
     genau, von wann diese Liste ist.
    1. S. 13 Uhr hier in Whg
    2. Gleich um Geld gebeten zum Einkauf
    3. Warum schon wieder zahlen
    4. Ich: ihr 50 € gegeben
    5. S: ins Bett zurück geholfen
    6. S: war auf einer Behörde
    7. Ich: gedacht: 1 Std. später (2 schwule

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