Der Tod meiner Mutter
Handwerker
8. im Flur getroffen – wie später von den 2 Kolleginnen bestätigt)
9. geht mit Tasche z. Einkaufen, sagte, dass 1 Fuß pelzig wird, Dr. K. wird von uns gefragt, was er davon hält): normal,
nichts machen
10. S. mir aus Bett geholfen
11. S.: S. Einkäufe verräumt, ich: Beweismittel im Wohnzimmer aufschreiben – ein Fuß schläft ein – einer nicht – wie heute
– S. kocht Mittagessen vor – ich »Schade, das sind die schönen Sachen, die jeder Kranke, Alte, bes. Krebskranke« braucht
Ich weiß nicht genau, wer S. ist, wahrscheinlich die Frau, die im Sommer für sie gekocht hatte. Ich weiß nicht, warum sie
sich das mit den schwulen Handwerkern aufgeschrieben hatte, ich weiß nur, dass sie irgendwann im Sommer erzählte, der Kinderwagen
der Nachbarn sei vor Kurzem gestohlen worden, das sei sicherlich die Schuld dieser Schwulen.
»Wie bitte?«
»Na, die beiden oben mit ihrem Penthouse. Die haben schon mal gesagt, dass sie das stört. Und die haben ja auch was gegen
Kinder.«
»Was?«
Das war nicht meine Mutter.
»Und der Hund von denen, der mag auch keine Kinder.«
»Das kann ja sein, aber du glaubst doch nicht wirklich, dass die einen Kinderwagen klauen? Und überhaupt, bitte, was hat das
denn damit zu tun, dass sie schwul sind? Warum betonst du das so?«
»Ja, du hast ja auch schwule Freunde.«
»Ich habe schwule Freunde, klar, das weißt du doch, Jörn zum Beispiel, der dir bei der Hochzeit so geholfen hat, als es dir
nicht gut ging.«
»Du verstehst mich nicht.«
»Ich verstehe was nicht?«
»Lass uns von etwas anderem reden.«
Wer war diese Frau? Was sagte sie? Was wollte sie sagen?
Schweigen senkte sich über uns, und ich schaute ausdem Fenster, bis sie mich fragte, wie es meiner Frau ging, da schaute ich mich nach ihr um, und sie saß auf ihrem Stuhl.
Der letzte, der zwölfte Punkt auf der Liste ist in einer anderen Schrift geschrieben, vielleicht von Silvia oder einer anderen
Pflegerin: »HL« steht da, es war also Hannelores Meinung, das, was meine Mutter als Ergebnis dieser Beweisführung sah: »im
Prinzip egal ob positiv/negativ. Für die Kranken ist die Verschiedenheit wichtig, dass sie bleiben darf«.
Das Wort Verschiedenheit ist unterstrichen.
Die Angst war etwas, das sie veränderte.
Die Angst machte sie verletzlich und verschlossen, die Angst öffnete sie und trug sie, so seltsam das klingt, sie gab ihr
Halt. Die Angst führte sie von sich weg und näher zu sich hin, sie ließ sie fremd erscheinen, sie ließ sie mal älter wirken
und meistens jünger, und manchmal dachte ich, dass durch ihre Angst ein Mensch erschien, der sie einmal gewesen war, vor
langen Jahren.
Die Angst war wie Archäologie, sie legte Schichten bloß und sie fügte neue hinzu. Manchmal war meine Mutter weich und durchlässig,
manchmal benutzte sie die Angst und formte daraus eine Schale, die sie schützte, sie legte die Angst um sich, sie hüllte sich
in sie, sie wärmte sich an ihr; wenn sie Angst hatte, dann spürte sie immerhin, dass sie noch da war.
Und das war das Wichtigste; selbst die Angst war ein Beweis, dass sie noch lebte.
Die Angst konnte aber auch kalt sein. Die Angst machte sie misstrauisch. Sie machte sie abhängig. Meine Mutter dachte, eine
Freundin habe ihr Geld gestohlen, sie dachte, durch das Telefon könnte sie abgehört werden, sie dachte, die AOK wollte ihr
die Würde nehmen und ihr Leben.
Sie dachte, der Tod sei etwas, das sie aufhalten könnte, wenn sie nur gut aufpasste.
Und überall die Brillen; und überall die Zettel. Sie schrieb, um sich nicht zu verlieren.
Eine der Listen, die sie führte, ihre »Ideen für Selbstbestimmung und Veränderung«:
– Selbstbestimmung
– Heitere Sicht
– Eigenes Geld
– Eigene Post + Briefmarken
– Eigenes Papier
– Verschiedenheiten nebeneinander lassen
– Eigene Wäsche
– Verschiedene Altersstufen
– Eigenes Geschirr
– Eigene Seifen etc.
– Eigene Zeit
– Möglichkeit für Ortsveränderung
– Eigenes Telefon
– Eigene Wäschemaschine
– Eigene Bücher
– Eigene Bilder + Möbel
– Eigene Postkarten
– Eigene ärztl. Betreuung
– Eigener Abfall
– Eigener TV + Musik
– Eigene Sicht d. Geschichte
– Eigene Geschäfte
– Notfall-Möglichkeit
– Eigene Geschenkauswahl
– Eigene Zeitwahrnehmung
– Selber Perücke oder nicht
– Umgang mit Krebs
Und dann verlor sie sich doch.
Einatmen, ausatmen. Ich lernte das langsam.
Ich lernte, dass es
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